Die Nacht des Schierlings
murmelte: «Einerseits.»
Helena sah sie erwartungsvoll an. «Und?», fragte sie ungeduldig, als Rosina schwieg. «Würdest du uns auch dein Andererseits wissen lassen?»
«Das ist ganz einfach. Natürlich hat Gesine recht, da war Zeit vergangen, aber vielleicht hat der Konditor, betrunken wie er war, irgendwo zwischen hier und dem Fleet gehockt, auf der Straße, in einem Hauseingang, direkt auf dem Steg – was weiß ich? Dann wäre es ein Leichtes gewesen. Du meine Güte, vergesst lieber schnell, was ich hier sage. Ich rede nur theoretisch. Einfach ins Blaue. Ich will niemanden verdächtigen, es ist nur ein Gedankenspiel. Wirklich nur … trotzdem, Jakobsen, findest du nicht, du solltest Wagner wissen lassen, dass Hofmann kurz vor seinem Tod total betrunken hier war?»
Jakobsens betrübte Miene hellte sich zu diesem breiten Grinsen auf, das allen an ihm so vertraut war. «Gute Idee, Rosina, wirklich. Aber zu spät. Wagner war natürlich längst hier. Hofmanns Magd, Ella heißt sie oder so ähnlich – die solltest du mal treffen! Meine Herren, die hat Haare auf den Zähnen! –, also die wusste, dass er an dem Abend hierher wollte. Oder hat gedacht, dass er hier war. Die Witwe wusste es auch, klar. Zumindest hat sie das behauptet, ist ja peinlich für ’ne ordentliche Bürgersfrau, wenn sie nicht weiß, wo ihr Ehegespons sich um diese späte Stunde rumtreibt, oder? Nee, unser Weddemeister weiß das alles schon. Allerdings», Jakobsens Grinsen wurde noch breiter, «ganz so penetrant wie du hat er denn doch nicht nachgefragt. So», er drehte sich um und winkte Lineken heran, «jetzt spendier ich eine Runde Genever. Nur einen, kein halbes Fässchen», beruhigte er Gesine, deren hochgezogene Brauen Alarm signalisierten.
Was ein falscher Eindruck war. Gesine hatte absolut nichts gegen einen Genever ab und zu, wenn er kräftig nach Wacholderbeeren schmeckte, war er sogar ihr liebster Branntwein, was aber nur Rudolf wusste.
Rosina nippte gedankenverloren an ihrem Genever und hörte nicht auf das vergnügte Geplauder. Nur Helena bemerkte es und glaubte zu wissen, worüber sie nachdachte. Sie irrte sich nicht. Rosina dachte an den alten Apotheker beim Opernhof, bei dem sie zwei- oder dreimal Salbeipastillen für die Stimme gekauft hatte. Es war einige Jahre her, nämlich als sie für einige Monate den Becker’schen untreu geworden und im großen Theater am Gänsemarkt engagiert gewesen war. Der alte Apotheker war inzwischen gestorben, sie hatte gehört, ein neuer habe die Offizin samt Magazin und Laboratorium übernommen. Nur dort konnte Drifting, der Mann, mit dem Bruno Hofmann Karten gespielt hatte, Geselle sein. Es wurde höchste Zeit zu prüfen, ob die Salbeipastillen dort noch genau so schmackhaft und wirksam waren wie früher. Höchste Zeit.
«Rosina?» Helena beugte sich vor und sah die Freundin so argwöhnisch wie besorgt an. «Ein Königreich für deine Gedanken», flüsterte sie, «dabei weiß ich, was du denkst. Du willst wieder Wagner ins Handwerk pfuschen. Stimmt’s? Hüte dich, irgendwann muss es schlecht ausgehen. Ich will dich nicht auch im Fleet finden.»
Rosina lächelte und schob ihren Arm unter Helenas. Da war diese alte Vertrautheit und Wärme in Helenas Stimme, vielleicht zum ersten Mal, seit sie wieder gemeinsame Sache machten. Es war ein beglückendes Gefühl. Und es förderte den Übermut.
«Keine Sorge», raunte sie zurück, «ich habe nur daran gedacht, einen Vorrat an Salbeipastillen für das Theater zu kaufen. Ganz harmlos und völlig ungefährlich.»
«Und ganz zufällig in der Apotheke beim Opernhof.» Helena seufzte ergeben.
Rosina lächelte wieder, diesmal nicht milde, Kenner exotischer Tiere würde es vielleicht an einen Ozelot erinnern.
«D och, Madam, es ist sehr bekömmlich, für ein so kleines Kind sicher besser als das zudem teure Glauber’sche Wundersalz.»
Die junge Frau vor dem Rezepturtisch in der Offizin der Michaels-Apotheke drehte das Fläschchen mit dem Nussöl unschlüssig in den Händen.
«Natürlich könnt Ihr Eurem Sohn auch die Salzkur verabreichen, das geht aber auch bestens mit einfachem Kochsalz, das ist teuer genug, findet Ihr nicht? Das mögen die Würmer ebenso wenig. Oder gebt ihm Speiseöl, einfaches oder dieses Nussöl, Ihr könnt Zitronensaft oder Zucker dazumischen. Drei oder vier Morgen hintereinander genommen, hilft es sicher. Es schadet auch nicht, wenn Ihr es ihm einige Tage länger verabreicht.»
Offenbar war sie anderer Meinung.
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