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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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niemand. Der Hof um das große Theater hatte seinen Namen von der alten Oper, die zuvor hier gestanden hatte. Ein günstiger Ort, hatte er damals gedacht, wenn die Offizin auch nicht direkt an der Ecke zum belebten Platz, sondern zum Hofdurchgang liegt, kommt hier doch viel Volk vorbei. Noch so ein fataler Irrtum: Das Theater war oft geschlossen, manchmal wochenlang, dann kam hier niemand vorbei als die Leute, die in den Häusern um den Hof lebten – überwiegend arme Schlucker. Jetzt schob ein Mann mit zu kurzen ausgebeulten Hosen tief gebeugt einen Karren vorbei, seinen Rücken drückte eine Kiepe. Es war schon zu dämmerig, um seine Ladung zu erkennen. Den Mann glaubte er oft gesehen zu haben, aber er kannte weder seinen Namen noch seine Verhältnisse, obwohl er ein Nachbar war.
    Er schreckte zusammen, als sich die Tür vom Souterrain öffnete, es war nur Friedrich Reuther, sein Oheim – wer sonst. Momme Drifting, sein Geselle, war schon verschwunden, neuerdings war er häufig aushäusig.
    Der alte Friedrich sah aus wie meistens, als brauche er dringend ein Bad. Er war Apotheker wie sein Neffe, aber Interesse hatte er nur für die Wissenschaft der Chymie, mit großem Vergnügen nahm er Leubold alle Arbeiten im Laboratorium ab, köchelte und destillierte, ob Orangenwasser oder Tinte, Säuren oder jeglichen Pflanzenextrakt. Er schnalzte missbilligend, als er auf seinen müden Neffen herabsah.
    «Was für ein trübes Leben», sagte er. «Du bist noch keine vierzig Jahre alt und hockst hier herum wie – ach, was weiß ich. Such dir endlich wieder eine Frau, eine tüchtige diesmal, fröhlich wäre auch gut, mach ihr ein paar Kinder und bring deine Geschäfte in Schwung. Sei nicht so ein Pietist, dein Gewerbe erfordert nicht nur Wissen, mein Lieber, sondern auch Phantasie und eine gewisse Großzügigkeit bei der Auslegung der Berufsehre.»
    Leubold lachte, was ihn selbst überraschte. So wie Friedrich es verkündete, war alles ein Spiel.
    «Leichter gesagt als getan», sagte er, «aber danke für den Rat, just darüber habe ich gerade nachgedacht. Setzen Sie sich doch zu mir. Wie wäre es mit einem Glas Birnengeist?»
    «Später vielleicht, ich will nochmal nach dem Ofen unten sehen. Du bist selbst schuld, wenn diese Leute nicht bei dir kaufen. Die merken, dass sie dir nicht gut genug sind, und gehen woandershin.»
    «Was heißt denn nicht gut genug und woandershin? Sehen Sie sich meine Nachbarschaft doch an, Onkel: Die können sich den Weg in eine Apotheke nicht leisten. Wenn sie krank sind, und das sind sie alle Tage, kurieren sie sich selbst, rennen zu irgendwelchen Quacksalbern oder heimlichen Kräuterhexen. Die wiederum kurieren sie zwar oft genug zu Tode, aber das ist einerlei. Die Leute», fügte er bitter hinzu, «wollen spüren, wie ein Mittel wirkt. Wenn ihnen davon übel wird, wenn es in einer Wunde brennt oder zu Koliken führt, sehen sie das als Beweis und sind es zufrieden. Dann hat das Mittel gewirkt, egal mit welchen Folgen. Noch besser ist es, wenn dazu ein Zauberspruch gemurmelt wird oder ein paar Krümel getrocknetes Blut oder Menschenfett eingerührt, am besten von einem, der für besonders viehische Morde zu Tode gebracht wurde. Und zwar auch auf viehische Weise. Es sind nicht nur die armen, ungebildeten Leute aus den Gängen und Höfen, die an solchen Humbug glauben. Als wären wir noch im Mittelalter, als wäre die Menschheit inzwischen nicht um zumindest ein Quäntchen klüger und vernünftiger geworden. Und was Sie dort unten im Souterrain treiben, Onkel, sieht mir ganz so aus, als gehörte es auch in diese Kategorie.» Seine Heftigkeit tat ihm gleich leid. «Nein», wehrte er ab, als Friedrich zu einer Antwort anhub, «ich will es lieber nicht so genau wissen. Es mag gerade nicht so geklungen haben, aber ich respektiere Sie und Ihre Wissenschaft. Ich muss die Experimente nicht verstehen, gleichwohl bin ich der Erste, der jubelt, sollten Sie zu dem erhofften Ergebnis kommen.»
    Friedrich schüttelte mit diesem unergründlichen Lächeln, das seinen Neffen häufig zutiefst beunruhigte, den Kopf. Dann sah er Leubold eindringlich an. «Erwarteten! Zu dem erwarteten Ergebnis. So ist das Leben», sagte er, «es führt zum Tode. Für diesen früher, für jenen später. Da wirst du mir recht geben, nicht wahr?»
    Leubold wollte fragen, was er damit meine, aber da hatte er die Tür schon hinter sich ins Schloss gezogen. Aber sie öffnete sich wieder, und das zerknitterte Gesicht des Alten, die

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