Die Nacht des Schierlings
Hinweis gibt?»
Erschreckt von ihrer plötzlichen Nähe und Eindringlichkeit, trat er unwillkürlich einen halben Schritt zurück. «Vielleicht, Madam, aber es hat nichts zu sagen. In den Straßen liegt so viel herum, man weiß nie, wie lange schon, ja, leider, und auch nicht, wem es gehört.»
Plötzlich hatte Wagner es sehr eilig, dieses Haus zu verlassen. Zum einen, weil ihn diese Atmosphäre aus Trauer, Ablehnung und Ungeduld deprimierte, zum anderen – das war es, was ihn traf wie ein Hieb – hatte sich in seinem Kopf ein Sammelsurium vager Nachrichten und Bilder zu einem konkreten Gedanken zusammengefunden, der ihm erst recht nicht behagte. Dem er unbedingt nachgehen musste. Denn es war ein zugleich absonderlicher und naheliegender, so oder so ein aufs Höchste unangenehmer, ja, erschreckender Gedanke.
KAPITEL 8
«Z ur Suppe, Madam? Da kann man fast jede Wurst nehmen. Wie wär’s mit der von der Hammelkeule, schieres Fleisch, keine Sehnen oder Hautfetzen, kein Knorpelkram. Wir kneten nur frisches Nieren- und Ochsenfett rein, Eier und Rahm, das versteht sich, Salz, Kümmel, und damit alles gut zusammenbackt, ein Händchen voll gerieben Brot. Ihr findet keine besseren, nicht hier in der Stadt oder die Elbe rauf und runter.»
Die Frau am Stand mit Schinken, Speckseiten und Würsten rieb ihre fettigen Finger an der großen dunkelblauen Schürze ab und blickte unter ihrer nicht mehr ganz reinen weißen Haube mit diesem zufriedenen Stolz auf ihre Waren, wie sie auf eine äußerst wohlgeratene Kinderschar blicken mochte. Trotzdem war Rosina nicht überzeugt. Vielen galt es als Beweis für Gottes unermesslich reiche und in weiten Teilen wohlschmeckende Schöpfung, sie mochte den Geschmack von Hammelfleisch trotzdem nicht. Lammfleisch war ihr recht, besonders, wenn es im Frühjahr mit Sauerampfersauce von den frisch sprießenden Blättchen serviert wurde. Kümmel allein würde den Hammelgeschmack nicht verbessern, mit Muskat, Nelken oder Thymian, Lorbeerblatt würde es gehen, aber nicht pur.
«Die Hammelwürstchen könntet Ihr zu allem auf den Teller legen, meinem Mann allerdings schmecken sie am besten zu saurem Kohl», erklärte die Metzgersfrau eifrig weiter, «ich finde sie ebenso gut zu würzigem Savoyenkohl, Gelben Rüben, zu Artischocken, sogar zu Erdäpfeln, dann gern ein bisschen in Butter gebraten, aber nur kurz, auch zur Suppe sollen die Würste nur kurz im kochenden Sud liegen.»
«Im Sud, aha.» Rosina hörte nicht mehr richtig zu, denn ihr Blick war einem vertrauten Gesicht gefolgt. Die halbe Stadt schien auf dem Hopfenmarkt unterwegs zu sein, Köchinnen und Kleinmädchen, Hausfrauen und Töchter, auch Damen und einige Herren, gewöhnlich mit einem den Einkaufskorb tragenden dienstbaren Geist im Gefolge. Man sah reiche Privatiers und bettelarme, nach Arbeit oder auch nur nach Abfällen suchende Männer, Frauen und Kinder, Kontorboten oder Garnisonssoldaten, dazwischen boten Straßenverkäufer alles an, was Hände und Rücken tragen konnten, vom Blumenbukett über die neuesten Flugschriften zu Zitronen und Nähnadeln, von kleinen Vögeln in hübsch geflochtenen Käfigen zu Windrädern, Stoffbällen und Holzpüppchen, Tongeschirr, Räucheraalen oder bunten Bändern. Wer nur halbwegs in der Nähe etwas zu erledigen hatte und das eine oder andere Minütchen übrig, nahm gerne den Weg über diesen Markt, der um St. Nikolai und nur einen Katzensprung von Börse, Rathaus und Commerzium entfernt stattfand. Selbst hohe Gäste des Rats wurden hierher geführt, um das Treiben auf dem weit über die Region hinaus berühmten Markt in der Mitte der Stadt zu erleben.
Auch Rosina flanierte hier gern, wobei sie die Buden und Stände für Gemüse, Obst und Haushaltsgerät für gewöhnlich denen der Schlachter vorzog. Sie hatte rohes Fleisch noch nie appetitlich finden können, besonders im Sommer, wenn sich Schwärme von allerlei fliegendem Getier darauf niederließen und der Blutgeruch penetrant wurde.
Ihr Korb war schon schwer von einem ordentlich fetten, in ein Stück reines Leinen eingeschlagenen Stück Ochsenfleisch und verschiedensten Gemüsen, die meisten frisch aus den herbstlichen Gärten und von den Feldern der Elbmarschen. Pauline, der gute dienstbare Geist der Vinstedts, hatte sich erboten, einen großen Topf Suppe für die Komödiantengesellschaft zu kochen, damit es nach der Probe eine ordentliche Mahlzeit gebe. Rosina hatte sich umgehend und mit leisem Bedauern verpflichtet gefühlt, den Einkauf
Weitere Kostenlose Bücher