Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
unter ihren üblichen Ängsten litt. Die Gruppe gab ihr den Rahmen, den sie anscheinend immer gebraucht hatte, und sie glaubte daran, dass sie sich nun wirklich als Persönlichkeit weiter entwickelte.
Ihre Freßanfälle ließen nach und ihre Stimmen störten sie kaum noch.
Dann kam endlich Eckhardt die Gruppe besuchen. Er sprach zu ihnen von den Anstrengungen, die sie auf sich nehmen müssten auf dem Weg zur inneren Ruhe und verlangte kleinere Dienste zum Beweis ihres guten Willens.
Marions erste Aufgabe bestand darin, eine untreue Anhängerin auszuspionieren. Diese hatte vor, wie Eckhardt ihr erzählte, interne Angelegenheiten des Seminars an die Presse auszuplaudern. Marion ging ihr hinterher, fand heraus, wo sie wohnte und schrieb Briefe an ihren Arbeitgeber, in denen stand, dass sie heimlich der Prostitution nachgehe. Dann lancierte sie unter der Adresse der untreu Gewordenen eine eindeutige Anzeige in einem pornographischen Stadtführer. Da half kein leugnen und beteuern, sie musste ihren Arbeitsplatz in einem Reisebüro räumen. Ihrem Vermieter steckte Marion ebenfalls diese Anzeige zu. Es verstand sich von selbst, dass man solche Geschäfte in einem ehrenwerten Haus nicht duldete. Das Mädchen gab schnell nach und verließ die Stadt. Eigentlich bedauerte Marion das, weil sie noch einiges in petto gehabt hätte, um die kleine Schlampe weich zu kochen.
Ein andermal machte sie sich an einen Stadtrat heran, der eine Vorlage zur Finanzierung von Untersuchungen des Sektenwesens durch den jährlichen Finanzausschuss bringen wollte. Die Sache war so einfach, dass Marion sich eigentlich wunderte, warum der Mann nicht schon früher über seine Affären gestolpert war. Eckhardt wusste genau, welchen Weg der Herr Stadtrat nach den Sitzungen seiner Partei nach Hause nahm, und dass er eine verhängnisvolle Leidenschaft für heroinabhängige Prostituierte hatte. Die taten eben, was er wollte, und dies für wenig Geld. Zum Glück musste Marion nicht einmal herausfinden, was der Mann von den jungen Mädchen verlangte, sie brauchte nur den Finger ausstrecken, der Wagen des Stadtrates hielt, sie stieg ein, und wenige Meter später wurden sie von einer vorbereiteten Polizeistreife angehalten. Bevor der Fall durchsickern konnte, ließ Eckhardt die Protokolle dieser Nacht durch einen Freund verschwinden und der Stadtrat zog seine Vorlage zurück.
So verdiente sich Marion ihre Mitgliedschaft im Seminar mit Diensten, deren Grausamkeit ihr wohl bewußt war, die sie aber gerne tat für das Gefühl, von einer Gemeinschaft akzeptiert zu werden, die von einem so einflussreichen Mann wie Eckhardt geführt wurde.
Von den Zielen der Bewegung verstand sie weiterhin wenig. Eckhardt erklärte ihnen, dass die Welt der Erscheinungen, die Welt wie sie sie kannten, von einem bösen Gott erschaffen worden war, der die Materie mit dem ursprünglich reinen Geist so sehr vermischte, dass nicht mehr zu erkennen war, welches das wahre göttliche Prinzip wäre. Ihre Aufgabe sei es, ihre Seelen, die in die Körper der Welt gefallen seien, wieder von ihrer materiellen Existenz zu befreien, durch Einsicht, Übung und Gehorsam gegenüber den 'Wissenden'. Von den 'Wissenden' gab es derzeit nur ein halbes Dutzend auf der ganzen Erde, ihre Zahl würde sich aber schon bald vergrößern und dann würde der letzte Kampf um Gut und Böse, um Licht und Finsternis, um Geist und Materie entschieden werden. Wer bis dahin seinen Meister gefunden und treu zu ihm gehalten hätte, der würde gerettet und aufgehoben werden zur höheren Existenz in der siegreichen Lichtwelt.
***
Einige Tage nach der Sache mit dem Stadtrat stand Marion vor dem Spiegel, um sich zu schminken. Beschämt dachte sie an ihre gestrige Entgleisung. Zum ersten Mal seit Monaten hatte sie den Kühlschrank wieder bis in die letzte Ecke leergefressen. Das kam natürlich nie wieder vor, schwor sie sich.
Eine Zeit lang hatte sie es immer wieder im Griff. Wochenlang konnte sie regelmäßig und vernünftig essen, aber dann geriet es irgendwie wieder aus dem Lot.
Aber dank des Seminars wusste sie nun, dass es sich dabei um die Versuche des dämonischen Prinzips handelte, ihre Lichtseele ganz hinunter zu ziehen in die materielle Welt. Sie musste nur weiter dagegen ankämpfen und herausbekommen, was die Stimmen von ihr wollten. Langsam müsste sie doch die erste Stufe geistiger Reinheit erreichen, dachte sie ungeduldig. Ruth hatte ihr versprochen, dass ihre Anfälle dann verschwinden und auch
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