Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
dünn.
"Sieh zu, dass du mehr heraus bekommst. Laß dir Mal was einfallen, benutz deine Phantasie."
So war sie auf die Idee mit dem Schrank und dem Kartenspiel gekommen, und als sie nach einer Weile bemerkte, dass eine Karte fehlte, teilte sie es Eckhardt natürlich sofort mit. Irgendwie schien ihn das zu beunruhigen, mit dem Kartenspiel schien sie einen Zufallstreffer gelandet zu haben, der ihm gar nicht behagte, auf jeden Fall verließ er sofort ihre Wohnung.
Marion nahm sich vor, herauszubekommen, warum ihn das so beunruhigte. Vielleicht war es nützlich, zu wissen, worum es ging.
***
In einer Buchhandlung kaufte Marion genau so ein Kartenspiel, wie das, aus dem Elaine die Karte genommen hatte. Zuhause angekommen, riss sie die Hülle um das Spiel herum ab und blätterte den Stoß Karten durch. In den letzten Tagen hatte sie sich immer wieder alle Karten aus ihrem alten Spiel angeschaut, deshalb erkannte sie sofort die fehlende Karte. Sie zeigte ein fettes Monster mit einer Fackel in der einen und einem Zepter in der anderen Hand. Eine Schlange kam aus dem Bauch des Monsters hervor. Am unteren Rand stand eine lateinische Zahl und ein Wort oder Name: "Typhon".
Nervös blätterte sie in dem beiliegenden Heftchen nach einer Erklärung.
"Der Teufel: Lucifer, der Lichtbringer. Wir leben nicht in der ewigen ruhigen Einheit Gottes, sondern wir leben in der verfallenden Vielheit. Wir leben nicht in Seiner Alles-verbundenen Harmonie, sondern wir leben in einer von der absoluten Harmonie entfernten Welt. Dieser Gegenpol, der Schatten Gottes, wird symbolisiert durch seinen Widersacher, den Teufel. Der Teufel leitet das Ende ein und befreit den Herrn des letzten Tages. Versuchen Sie, sich von der traditionellen Sicht des Teufels zu lösen und seine positiven Aspekte im kosmischen Drama zu verstehen. Der Lichtbringer hilft uns dabei, unsere Geistseele zur göttlichen Quelle aufzuschwingen."
So, ihre ach so nette Nachbarin hatte also eine Karte mit dem Bild eines fetten Monsters mitgehen lassen. Was wollte sie damit, war sie eine Teufelsanbeterin? Was da zur Erklärung stand, verstand sie so ungefähr. Das der Teufel hier nicht so negativ wegkam wie man es ihr im Konfirmantenunterricht beigebracht hatte, schockierte sie nicht mehr, sie war ja nicht blöd. So viel hatte sie inzwischen gelernt, mit dem Etikett des Teuflischen konnte man so ziemlich alles bekleben, was irgendwie auch nur annähernd Spaß machte. Alles kalter Kaffee . 'Sympathie for the Devil'. Und was da über kosmisches Drama und des Teufels Rolle im Spiel stand, erinnerte sie an das, was sie im Seminar gelernt hatte. War etwa auch ihre Nachbarin Mitglied des Seminars? War sie vielleicht eine Abtrünnige? Würde sie ihrer Nachbarin bald auch eine Falle stellen müssen?
Das alles kam ihr doch etwas seltsam vor.
Ach was, sie wollte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen. Sie bekam langsam Hunger.
Verärgert legte sie die Karte zurück auf den Haufen und den vollständigen Haufen sorgfältig neben den Unvollständigen.
***
Während des nächsten Seminars passierte etwas Entscheidendes.
Ruth erklärte ihnen gerade, dass Erika, die einige Wochen später als Marion ins Seminar gekommen war, die erste Stufe geistiger Reinheit erreicht hatte, als Marion in Tränen ausbrach.
Seit Tagen hatten ihre Fressanfälle eine Intensität erreicht, die ihr Angst zu machen begann. Tagsüber zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen, sie konnte kaum gerade gehen und nachts konnte sie nicht schlafen. Ihr schlechtes Gewissen darüber, dass sie ihrer Nachbarin hinterher spionierte und Kindheitserinnerungen, die sich nicht abweisen ließen, brachten sie fast um den Verstand. Das Bild ihres Vaters, der im grell erleuchteten Türrahmen ihres Kinderzimmers stand, ließ sich nicht mehr verdrängen. Der Schmerz, der sich mit diesem Bild ankündigte, presste ihr Herz so sehr zusammen, dass sie nächtelang nur in der leeren Wohnung auf und ab lief, weinend und um Verzeihung bittend.
Sie wusste nicht, was sie getan hatte. Sie wusste nicht, was sie getan hatte. Sie wusste nicht ...
Und jetzt wurde diese kleine Nutte ihr vorgezogen. Was konnte sie dafür, dass sie ihre Anfälle nicht in den Griff bekam? Hatte sie nicht alle Aufgaben zur Zufriedenheit erledigt? War nicht sie diejenige, die der Meister zu seiner Geliebten erwählt hatte? Wer verdiente es mehr als sie, endlich aus dem Status des Befehlsempfängers entlassen zu werden?
Sie hielt es nicht mehr aus.
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