Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
Alles wurde schlimmer statt besser, wie man es ihr versprochen hatte. Statt Licht erlebte sie die tiefste Finsternis ihres bisherigen Lebens.
Sie hatte es satt.
Weder Ruth noch die anderen Frauen konnten sie beruhigen. Sie wand sich am Boden und schrie alles aus sich heraus, was sie in Monaten angesammelt hatte. Sie wusste jetzt, dass ihr Vater sie vergewaltigt hatte, dass sie ihn liebte, wie sie nie einen Menschen geliebt hatte und dass er sie trotzdem vergewaltigt hatte. Sie wusste, dass ihre Mutter es gewußt und nichts getan hatte. Sie wusste, warum ihr Bruder an einer Überdosis gestorben war, weil er es auch nicht mehr ertragen hatte. Und sie wusste, dass sie all das schon immer gewußt hatte, dass sie es nur nie nah genug an sich hatte herankommen lassen. Und sie sah, dass keiner dieser Leute hier ihr je helfen würde.
Schließlich holte Ruth einen Arzt. Der gab Marion eine Spritze und wies sie sofort in ein Krankenhaus zur Beobachtung ein.
***
Nach drei Tagen wurde sie wieder entlassen. Für ein Gutachten war momentan kein Arzt frei und gegen ihren Willen konnten sie sie nicht länger festhalten. Sie gaben ihr ein paar Tabletten mit und den Tipp, sich bei der Krankenkasse nach einer Therapie zu erkundigen.
***
Am Abend nach ihrer Entlassung kam Eckhardt, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Dass sie sich nicht totlachte.
Natürlich war er nur da, um herauszufinden, ob sie den Quacksalbern etwas erzählt hätte und um ihr zu drohen. Natürlich hatte sie nichts erzählt. Sie hatte verdammt andere Sorgen, als sich noch selbst zu belasten. Sie musste erst einmal mit ihren eigenen Problemen fertig werden, mit dem, was sich nicht länger verdrängen ließ.
Da hatte er angefangen, sie zu schlagen. Nicht, dass sie nicht schon früher geschlagen worden wäre. Aber er schlug sie anders, leidenschaftslos, wie ein Metzger Filet schlug. Totes Fleisch musste bearbeitet werden um die richtigen Portionen zu bekommen. Obwohl die Schläge sehr schmerzten, war Marion ganz klar im Kopf, als hätte jemand einen Schalter in ihr umgelegt. Sie interessierte sich nicht für das, was gerade mit ihr geschah, sie kroch ganz tief in sich zurück, so, wie sie es schon bei ihrem Vater getan hatte.
Sie beschloss, ihm zu schaden. Koste es, was es wolle, sie würde sich rächen.
***
Nachdem Eckhardt gleichgültig einige Minuten neben ihr gesessen und sie beim Weinen beobachtet hatte, verließ er die Wohnung. Glücklicherweise ging er zu Fuß in die Stadt. Im Abstand von fünfzig Metern folgte sie ihm, bis sie zu einer Apotheke kamen. Eckhardt drückte auf die Klingel des Nachtschalters und wartete. Nach einer Weile kam eine Frau, die Apothekerin, und die beiden unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Marion konnte die Frau nicht sehen, Eckhardt verdeckte ihr die Sicht, aber die Stimme der Frau kam ihr bekannt vor. Sie schien aufgeregt über irgend etwas . Marion konnte nicht hören, worum es ging, näher als bis hinter einen Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite traute sie sich nicht heran.
Auf jeden Fall sah sie, wie Eckhardt der Frau einen Schlüssel durch den Schalter reichte. Dann drehte er sich um und stieg zu Marions großer Enttäuschung in ein Auto, das direkt vor der Apotheke stand und fuhr schnell weg.
Sie kam hinter dem Baum hervor und ging unruhig auf und ab. Was sollte sie jetzt tun? Wie im Kino sich ein Taxi nehmen und dem Fahrer über die Schulter rufen: "Folgen sie diesem Wagen?"
Einfach lächerlich, außerdem hatte sie nur einen Zehnmarkschein dabei. Was, wenn die Verfolgung länger dauern würde als ihr Geld reichte? Sich an dem Ort, an den Eckhardt sie führen würde, mit dem Taxi-Fahrer anlegen? Aus dem Taxi flüchten ohne zu bezahlen? Aufsehen erregen und eventuell von Eckhardt entdeckt werden?
Schon der Gedanke daran, was er dann mit ihr tun würde, drehte ihr den Magen um.
Sie überlegte noch, ob sie nicht einfach wieder abhauen sollte, um sich vielleicht hinter ihrer Wohnungstür nach Elaine auf die Lauer zu legen, als die Apothekerin, mit einer flachen Kiste unter dem Arm, eilig auf den Bürgersteig trat.
Es war Ruth, die verhaßte Seminarleiterin. Jetzt wusste Marion auch die Stimme zuzuordnen.
***
Sie folgte Ruth.
Es war schon spät, als sie bei einer Boutique, nicht weit entfernt von der Apotheke, mitten in der Einkaufsmeile der Stadt ankamen. Nur noch einige Nachtbummler zogen vorbei. Die Boutique war direkt neben einer Kirche in einem
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