Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
Stimmen sie eines Tages überwältigen würden, war so ziemlich das, was sie immer befürchtete, aber als sie dies so nebenher aus seinem Munde hörte, hörte es sich plötzlich nicht mehr bedrohlich, sondern direkt wünschenswert an.
Die selbstverständlichste Sache der Welt.
Er fragte sie, ob sie Lust habe, am Wochenende an einem Seminar teilzunehmen, gemeinsam mit anderen Leuten, die früher ähnliche Probleme gehabt hatten wie sie und die mit verschiedenen Methoden darüber hinweg gekommen waren.
Alles in allem war es ein wirklich netter Abend, und Eckhardt hatte nicht einmal versucht, sie anzufassen.
***
Aber zu Marions Enttäuschung wurde das Seminar nicht von Eckhardt geleitet. Es waren nur Frauen, die sich in einem sonnendurchfluteten Pavillon nahe der Burg am Rande der Stadt trafen, um praktische Übungen zur Erlangung des inneren Gleichgewichtes zu erlernen. Atemübungen, Visualisierung von geometrischen Figuren, Tanz und Gespräch.
Das Seminar ging über das ganze Wochenende, und nachdem sie einige Anfangsschwierigkeiten überwunden hatte, fühlte Marion sich richtig wohl in der Gruppe. Sie konnte sogar über ihre Fressorgien sprechen, nachdem sie mitbekommen hatte, dass die meisten der anwesenden Frauen ähnliche Probleme hatten und die Leiterin des Seminars, Ruth, ihre Erfahrungen nicht als so problematisch bewertete, wie sie es in den vergangenen Jahren von den Ärzten und Psychologen gewohnt gewesen war.
Vor allen Dingen hatten ihre Eltern nun wirklich nichts damit zu tun. Die Psychologen wollten ihr nur einreden, dass an allem, was geschah, ihre verpfuschte Kindheit schuld war. So würde sie nie mit dem fertig werden, was sie belastete. Schließlich hatte sie ihren Vater geliebt und nun sollte er schuld sein? Sie hatte es noch nie leiden mögen, wenn die Ärzte sie nach ihrem Vater fragten.
"Nichts Böses ist in dir, wenn du das materielle Prinzip erst einmal überwunden hast." sagte Ruth, "Deine Stimmen kommen nicht aus deinem Körper, sondern aus deinem Geist. Erkenne, dass das Mandala, das die innere Ordnung deines Geistes symbolisiert, gestört ist durch die Unordnung des körperlichen Prinzips. Indem du deinen Stimmen gehorchst, findest du heraus, wer du wirklich bist und stellst die richtige Ordnung wieder her. Gib ihnen nach, um sie zu besiegen."
Und so fing sie in den folgenden Wochen an, aus dem Wellensalat ihrer inneren Radiostation einzelne Stimmen zu isolieren und deutlicher werden zu lassen. Zunächst war sie furchtbar erschrocken über das, was sie von ihr verlangten. So war ein neues Detail ihrer allabendlichen Fressorgien das Verzehren von rohem Fleisch.
Und welche Wonne bereitete ihr das Küssen des roten, noch blutigen Gewebes.
Es kam einem sexuellem Akt gleich, den sie nun genießen konnte ohne fürchten zu müssen, von einem Partner verschlungen zu werden. Im Gegenteil, SIE verschlang das Objekt ihrer neuen Begierde und führte es so in ihren Körper ein. Sie liebte es. Sie lutschte genüßlich das Blut und imaginierte eine Zunge, die sich mit ihrer berührte. Eine große, fleischige Zunge die sie intim küsste.
Dann biss sie zu und würgte das Fleisch herunter.
Und nachdem sie den Lustgewinn des neuen Rituals erkannt hatte und nicht mehr darauf verzichten wollte, wurde sie mutiger. Die Stimme wollte, dass sie nun ganz andere Sachen mit dem Fleisch anstellte. Tagsüber konnte sie nie daran denken, was diese Stimme ihr befahl. Aber abends, im blauen, kühlen Licht ihrer Uterusmaschine, die sie mit Nahrung versorgte, tat sie diese Sachen, die sie nie für möglich gehalten hatte.
***
Nach einiger Zeit nannten sie ihre wöchentlichen Treffen in Eckhardts Pavillon nur noch 'das Seminar', obwohl sie eigentlich kaum noch Übungen machten. Aber sie besuchten sich gegenseitig und halfen sich, wann immer jemand aus der Gruppe Schwierigkeiten hatte. Fehlte Geld für die Miete? Ruth half aus. War der Freund mit einer anderen verschwunden? Zwei Frauen aus der Gruppe hielten Nachtwache bei der Betroffenen, damit diese sich nichts antat. Hatte jemand das Gefühl, es ginge nicht so recht weiter mit der spirituellen Entwicklung? Sie wurde getröstet: Dafür war die Gruppe schließlich da. Sie waren eine Gemeinschaft der Suchenden auf dem Weg in eine freiere, selbstbewußtere Zukunft.
Marion blühte auf.
Sie half, wo sie konnte. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, das sie für andere verantwortlich sein durfte, ohne, dass sie dabei
Weitere Kostenlose Bücher