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Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Titel: Die Nacht des Ta-Urt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bödeker
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uralten, kleinen Steinhaus untergebracht. Ruth hatte den Schlüssel. Sie öffnete die Tür in den halb erleuchteten Verkaufsraum, durchquerte ihn zielstrebig und verschwand hinter einem Vorhang in der Kassenzone. Die Tür ließ sie offen. Augenscheinlich erwartete sie weitere Besucher.
    Marion wartete einen Moment und schlüpfte hinter ihr her.
    Das Innere des Raumes unterschied sich durch nichts von anderen Boutiquen. Ständer und Tische mit Kleidung, in der Ecke drei enge Umkleidekabinen. In einer der Kabinen stand ein niedriger Stuhl, auf den die Kunden ihre Sachen legen konnten. Marion hockte sich auf den Stuhl, so, dass ihre Füße nicht unter dem Vorhang hindurch zu sehen waren, und wartete.
    Sie hörte ein Geräusch. Vorsichtig schob sie den Vorhang ein wenig zur Seite und lugte aus der Kabine hervor. Ein Pärchen, ein Mann und eine Frau, kamen eng umschlungen zur Tür herein, durchquerten den Verkaufsraum und verschwanden hinter dem Vorhang, durch den eben Ruth den Raum verlassen hatte. Bevor der Vorhang wieder in seine Ausgangslage zurück schwingen konnte, sah Marion, dass sich eine Treppe dahinter befand. Im Gegensatz zum modern eingerichteten Innenraum der Boutique konnte Marion erkennen, dass das Treppenhaus aus rohen Steinen gebaut war.
    Nach etwa zwei Minuten kam ein leicht ergrauter Herr zur Tür herein. Mit seine dichten Augenbrauen sah er ein wenig wie ein Türke aus, fand Marion. Der Mann verharrte kurz im Verkaufsraum, schien unsicher, was er tun sollte, zog seinen Mantel aus, warf ihn auf einen Stuhl und ging ebenfalls die Treppe hinunter.
    Einige Minuten tat sich nichts.
    Marion konnte ihre Neugier nicht länger beherrschen. Sie ignorierte den schmerzhaften Schlag ihres Herzens, setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf den Boden, schob den Vorhang zur Seite und verließ die Kabine.
    Draußen fuhr hupend ein Auto vorbei.
    In diesem Moment erinnerte sie sich daran, dass sie, als sie noch ein kleines Kind gewesen war, manchmal bei ihren Großeltern auf der Couch im Wohnzimmer hatte schlafen dürfen. Direkt vor dem Haus führte eine stark befahrene Straße vorbei. Nachts hatte sie da gelegen und die flüchtigen Kegel aus Licht, die die vorbeifahrenden Autos durch das Fenster warfen, beobachtet. Immer das gleiche Schattenbild aus Fensterkreuz und Blumentöpfen war von links nach rechts, von links nach rechts über die Decke des Zimmers gezogen. Die Schattenbilder zu betrachten, das Rauschen des vorüberziehenden Verkehrs und das Klappern von Geschirr aus der Küche nebenan zu hören, all das hatte ihr damals ein Gefühl von Geborgenheit gegeben, wie sie es nie wieder danach empfunden hatte.
    Nichts wünschte sie in diesem Moment sehnlichster , als an diesen Ort zurückkehren zu können.
    Aber weil sie wusste, dass das Paradies verloren war, zog es sie hinunter in den Keller.
    Sie schob den Vorhang zur Treppe zur Seite und lauschte. Nichts. Nackte Stufen zogen sich in einer leichten Kurve nach unten, eine dünne Lichterkette wie sie an Weihnachtsbäumen hängt, beleuchtete die kalten, feuchten Wände. Jetzt musste sie sich entscheiden. Entweder sie drehte um und verließ die Boutique, am besten auch gleich ihre Wohnung und die Stadt, oder sie ging hinunter und fand heraus, was sich dort unten abspielte. Sie ging davon aus, dass es etwas sein würde, was zumindest die Presse, wenn nicht sogar die Polizei interessieren würde. Schließlich hatte ja auch das Mädchen, das mit ihrer Hilfe aus der Stadt vertrieben worden war, etwas gewußt , was zumindest so gefährlich war, dass der Aufwand sich gelohnt hatte, Marion auf sie anzusetzen.
    Sie dachte an Eckhardt, an die Schläge, die sie heute bekommen hatte, an den gleichgültigen Sex, den er mit ihr trieb, an die Versprechungen, die nicht eingehalten worden waren, an ihren Vater, der   ...
    Sie ging hinunter.
    Bevor die Treppe in einer leichten Biegung zum offenen Keller hin endete, machte Marion vorsichtig halt und lugte um die Ecke. Ruth, das Pärchen und der Türke standen in einem Raum, der bis auf einige mit einem Tuch nur ungenügend abgedeckte Kisten, leer war. Der Boden des Raumes bestand aus gestampfter Erde. Zur Beleuchtung hingen an den Wänden Stablampen, wie man sie auf Baustellen benutzte. Die Lampen gaben ein gelbes Licht, in dem die Gesichter der Anwesenden aussahen wie die von Marionetten, bleiche Konturen in hartes Material geschnitzt. Sie unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und schienen auf etwas zu warten. Der Türke

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