Die Nacht des Zorns - Roman
wieder mitzunehmen, oder?«
»Das könnte man so und so interpretieren, Adamsberg, ich sagte es schon mal. Es entlastet sie und ist darum sehr schlau.«
»Nicht schlau genug für sie.«
»Du magst sie, nicht wahr?«
»Ich habe nichts gegen sie. Nichts, was einigermaßen stichhaltig wäre.«
»Aber du magst sie.«
Émeri verschwand für einige Augenblicke und kam mit einem alten Klassenfoto zurück, das er Adamsberg auf die Knie legte.
»Hier, sieh mal«, sagte er. »Wir alle da drauf sind so zwischen acht und zehn Jahre alt. Hippo ist damals schon sehr groß, er ist der Dritte von links in der hinteren Reihe. Noch hat er seine sechs Finger an jeder Hand. Du kennst die grässliche Geschichte?«
»Ja.«
»Ich bin in der Reihe davor, der Einzige, der nicht lächelt. Du siehst, ich kenne ihn nicht erst seit gestern. Und ich kann dir sagen, Hippo war der Klassenschreck. Nicht der nette Kerl, den er dir gegenüber spielt. Wir parierten. Selbst ich, der zwei Jahre älter war als er.«
»Prügelte er?«
»Hatte er gar nicht nötig. Er hatte eine viel mächtigere Waffe. Mit seinen sechs Fingern, sagte er, sei er ein Soldat des Teufels, und er könne alles Unheil, das er wolle, über uns hereinbrechen lassen, wenn wir ihn ärgerten.«
»Und, habt ihr ihn geärgert?«
»Anfangs schon. Du kannst dir vorstellen, wie ein Schulhof voller Jungs reagiert, wenn da plötzlich einer mit sechs Fingern auftaucht. Als er fünf, sechs Jahre alt war, haben wir ihn verfolgt und nach Strich und Faden verarscht. Das stimmt. Eine der Banden war besonders grausam zu ihm, ihr Anführer war Régis Vernet. Einmal hat Régis Nägel in Hippos Stuhl geschlagen, mit den Spitzen nach oben, so dass Hippo sich aufgespießt hat. Er hatte sechs Löcher im Hintern und blutete, und der ganze Hof hat sich kaputtgelacht. Ein andermal hat man ihn an einen Baum gebunden,und wir haben ihn alle angepinkelt. Eines Tages aber ist Hippo aufgewacht.«
»Und hat seine sechs Finger gegen euch gekehrt.«
»Genau. Sein erstes Opfer war dieser Mistkerl von Régis. Hippo hat ihm gedroht, dann hat er seine beiden Hände auf ihn gerichtet, todernst. Und du kannst mir’s glauben oder nicht, fünf Tage später ist der kleine Régis von einem Auto aus Paris überfahren worden und hat beide Beine verloren. Entsetzlich. Aber wir Schüler, wir wussten, dass nicht das Auto daran schuld war, sondern der Fluch, den Hippo auf ihn geworfen hatte. Und Hippo widersprach auch nicht, im Gegenteil. Er sagte, dass er dem Nächsten, der ihm auf den Wecker ginge, die Arme, die Beine und selbst die Eier abreißen würde. Von da an hat alles sich umgekehrt, nun lebten wir in Angst. Später hat Hippo mit seinen Kindereien aufgehört. Aber ich kann dir versichern, noch heute, ob einer nun dran glaubt oder nicht, noch heute riskiert niemand einen Streit mit ihm. Weder mit ihm noch mit seiner Familie.«
»Kann man ihn sprechen, diesen Régis?«
»Er ist tot. Ich erfinde nichts, Adamsberg. Das Unglück hat sich festgebissen an ihm. Krankheit, Entlassungen, Todesfälle und Armut. Am Ende hat er sich in der Touques ertränkt, vor drei Jahren. Er war erst sechsunddreißig. Wir Älteren aus der Schule, wir wussten, dass das Hippos Rache war, die nie aufgehört hatte, ihn zu verfolgen. Hippo hatte es vorausgesagt. Wenn er beschloss, seine Finger auf einen zu richten, dann bedeutete das für denjenigen die Verdammung auf Lebenszeit.«
»Und was denkst du heute darüber?«
»Zum Glück bin ich mit elf Jahren von hier weg und habe das alles vergessen können. Wenn du den Bullen Émeri fragst, sagt er dir, dass diese Schicksalsgeschichten Blödsinn sind. Fragst du das Kind Émeri, so passiert es mir schon mal, dass ich denke, Régis ist eben verdammt gewesen. Sagenwir mal, der kleine Hippo hat sich verteidigt, so gut er konnte. Wir behandelten ihn als Satansbrut, als kranke Ausgeburt der Hölle, und da hat er schließlich den Teufel gespielt. Aber er hat auf einer spektakulären Höhe gespielt, selbst nachdem ihm die Finger abgeschnitten worden waren. Und dennoch sage ich dir, wenn der Kerl auch kein Abgesandter des Teufels ist, so ist er doch hart und vielleicht sogar gefährlich. Er hat unter seinem Vater mehr gelitten, als wir uns vorstellen können. Aber als er seinen Hund auf ihn gehetzt hat, da war das der reine Mordversuch. Und ich möchte nicht beschwören, dass ihm solche Gelüste heute vergangen sind. Wie willst du, dass die Vendermot-Kinder brave kleine Engel geworden sind, bei
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