Die Nacht des Zorns - Roman
nach oben ins alte Ordebec hinaufgestiegen. Auf einem warmen, noch von der Sonne beschienenen Mäuerchen sitzend, betrachtete er jede Einzelheit auf Wiesen und Hügeln und hoffte darauf, dass eine unbewegte Kuh sich bewegen würde. Er musste, bevor er losfahren konnte, sein Abendessen in der
Blauen Wildsau,
das hieß Danglards Anruf abwarten, um ihn zu bitten, die beiden jungen Leute nun zurückzubringen. Dazu musste der Commandant Zerk Richtung Italien auf den Weg schicken und Mo bei einem seiner Kumpels absetzen, dessen Vater die Rolle des Denunziantenübernehmen würde. Er brauchte seine Instruktionen nicht mal zu verschlüsseln, er hatte sie vor Danglards Abreise mit ihm festgelegt. Er brauchte nur noch das Signal zu geben. Keine einzige Kuh geruhte sich zu bewegen, und angesichts dieses Misserfolgs hatte Adamsberg das gleiche Gefühl von Unvollkommenheit wie am Morgen. Genauso flüchtig und genauso klar.
Im Grunde war es so etwas Ähnliches wie das, was sein Nachbar, der alte Lucio, ihm ständig erzählte, der als Kind im Spanischen Bürgerkrieg einen Arm verloren hatte. Das Problem, so erklärte Lucio, war nicht so sehr dieser Arm als die Tatsache, dass er im Moment des Verlustes dort einen Spinnenbiss hatte, den er noch nicht zu Ende gekratzt hatte. Und siebzig Jahre später kratzte Lucio ihn immer noch im Leeren. Was nicht zu Ende geführt ist, quält einen immer wieder. Was aber hatte er denn in Ordebec nicht zu Ende gebracht? Dass die Kühe sich bewegten? Dass Léo endgültig wiederhergestellt war? Den Abflug der Taube? Oder aber, das war sehr viel gewisser, die Eroberung von Lina, die er nicht einmal berührt hatte? Jedenfalls juckte es ihn, und in Unkenntnis der Ursache konzentrierte er sich auf die in der Landschaft gefrorenen Rinder.
Veyrenc und er trennten sich bei Einbruch der Nacht. Adamsberg übernahm es, das Haus abzuschließen, was er ohne alle Eile tat. Er stellte den Vogelkäfig in den Kofferraum, trug Hellebaud im Schuh hinaus und installierte ihn auf dem Vordersitz. Die Taube erschien ihm jetzt hinreichend zivilisiert, also denaturiert genug, dass sie nicht während der Fahrt anfangen würde, umherzuflattern. Der Gewitterregen war ins Wageninnere eingedrungen, vielleicht auch in den Motor, denn er hatte einige Mühe, zu starten. Was bewies, dass die Autos der Brigade nicht in besserem Zustand waren als das von Blériot und sehr weit entfernt von den Mercedes der Clermont-Brasseurs. Er warf einen Blickauf Hellebaud, der friedlich auf seinem Sitz saß, und dachte an den alten Clermont, der auf einem ähnlichen Vordersitz in vollem Vertrauen gewartet hatte, während seine beiden Söhne sich anschickten, ihn abzufackeln.
Zweieinhalb Stunden später durchquerte er den dunklen kleinen Garten seines Hauses in der Erwartung, dass der alte Lucio gleich aufkreuzen würde. Sein Nachbar hatte ihn bestimmt kommen hören, er würde unweigerlich auftauchen mit seinem Bier, so tun, als ob er unter den Baum pinkelte, bevor er das Gespräch eröffnete. Adamsberg hatte gerade seine Tasche und Hellebaud aus dem Wagen geholt, den er samt seinem Schuh auf den Küchentisch stellte, als Lucio auch schon aus der Dunkelheit trat, zwei Flaschen Bier in der Hand.
»Sieht wohl besser aus,
hombre «
, diagnostizierte er.
»Ich glaube.«
»Die Scheißschnüffler sind noch zwei Mal wiedergekommen. Dann sind sie verschwunden. Hast du deine Angelegenheiten geregelt?«
»Fast.«
»Und da auf deinem Land? Hast du das geregelt?«
»Es ist beendet. Wenn auch ziemlich übel. Drei Morde und ein Selbstmord.«
»Des Schuldigen?«
»Ja.«
Lucio nickte, er schien die makabre Bilanz zu ermessen und öffnete die Biere, indem er die Verschlusskappen an einem Ast aufhebelte.
»Du schädigst schon die Wurzeln«, protestierte Adamsberg, »indem du draufpinkelst, und jetzt reißt du auch noch die Rinde auf.«
»Überhaupt nicht«, entrüstete sich Lucio. »Im Urin ist jede Menge Stickstoff, was Besseres gibt’s gar nicht für die Kompostierung. Was glaubst du sonst, warum ich unter denBaum pisse? Der Stickstoff«, wiederholte Lucio, das Wort genüsslich auskostend. »Wusstest du das nicht?«
»Ich weiß nicht viel, Lucio.«
»Setz dich,
hombre «
, sagte der Spanier und wies auf die Holzkiste. »Es war heiß hier«, sagte er und trank einen Schluck aus der Flasche, »wir haben ganz schön gelitten.«
»War es dort auch. Von Westen zogen immer wieder Wolken auf, aber nichts passierte. Gestern endlich hat sich alles
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