Die Nacht des Zorns - Roman
Spuren des Erbrochenen folgend, eine auf dem Laken, die nächste zwanzig Zentimeter vor dem Fenster, die letzte auf dem Geländer. »Als ihm übel wurde, ist er in einem Reflex zum Fenster gestürzt. Eine Frage der Würde.«
Adamsberg zog sich in einen etwas abseits stehenden Sessel zurück, während die beiden Mitarbeiter der Spurensicherung das Zimmer in Besitz nahmen. Ja, seine Nachfrage im Schützenverein hatte Vallerays Selbstmord ausgelöst. Ja, derVicomte hatte nach drei Morden und zwei Mordversuchen keinen anderen Ausweg gewusst. Adamsberg sah seinen kahlen Kopf vor sich, der zerschmettert im Hof lag. Nein, Denis de Valleray hatte weder die Statur noch den Ausdruck eines unverfrorenen Mörders. Nichts Rohes, nichts Einschüchterndes, vielmehr war er ein reservierter und leiser Mensch, allenfalls schroff. Und doch hatte er es getan. Mit dem Gewehr, mit der Axt, mit der Armbrust. Erst in diesem Augenblick begriff Adamsberg, dass der Fall Ordebec an sein Ende gekommen war. Dass die verstreuten, vor sich hintuckernden Ereignisse sich plötzlich zu einer Schlinge zusammengezogen hatten, so wie man eine große Tasche mit einem Ruck schließt. So wie die Gewitterwolken im Westen auf einen Schlag brechen. Er würde ein letztes Mal Léo besuchen, ihr eine neue Wendung der Liebesgeschichte oder ein Kapitel über die trächtigen Stuten vorlesen. Ein letztes Mal die Vendermots, Merlan, der Graf, Flem, ein letztes Mal Lina, die Kuhle in der Wollmatratze, sein Platz unter dem schrägen Apfelbaum. Bei dem Gedanken an diese Abschiede und dieses Vergessenwerden überkam ihn ein seltsames Gefühl von Unvollständigkeit. So leicht wie Zerks Finger auf dem Gefieder der Taube. Morgen würde er Hellebaud in die Stadt zurückbringen, morgen würde er nach Paris fahren. Das Wütende Heer verschwand, der Seigneur kehrte zu den Schatten zurück. Nachdem er, sagte sich der Kommissar verdrossen, seine Mission komplett erfüllt hatte. Den Seigneur Hellequin besiegt man nicht. Alle hatten es vorausgesagt und wieder und wieder gesagt, und es stimmte. Dieses Jahr würde in die Annalen der düsteren Legende von Ordebec eingehen. Vier Ergriffene, vier Tode. Nur menschliches Zutun hatte er noch verhindern können, er hatte wenigstens Hippo und Lina vor dem Lynchmord mit der Heugabel bewahrt.
Die Gerichtsmedizinerin rüttelte ungeniert an seinem Arm, als sie ihn ansprach.
»Pardon«, sagte Adamsberg, »ich hatte Sie nicht kommen sehen.«
»Es war kein Unfall«, sagte sie. »Die Analysen werden es bestätigen, aber die Voruntersuchung weist auf die Einnahme einer tödlichen Dosis von Benzodiazepinen und vor allem Neuroleptika hin. Wenn er nicht aus dem Fenster gestürzt wäre, wäre er wahrscheinlich daran gestorben. Suizid.«
»Es bestätigt sich«, sagte einer der Mitarbeiter und kam auf sie zu. »Ich finde nur eine einzige Serie von Abdrücken, wie es aussieht, den seinen.«
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte die Gerichtsmedizinerin. »Ich weiß, dass seine Frau beschlossen hat, mit den Söhnen in Deutschland zu leben, aber die Ehe besteht schon seit Jahren nur noch auf dem Papier.«
»Er hatte gerade erfahren, dass er erledigt war.«
»Finanzieller Ruin?«
»Nein, die laufende Ermittlung. Er hatte drei Männer umgebracht, um ein Haar noch einen vierten, und die alte Léone, und war im Begriff, zwei weitere Personen zu töten. Oder auch vier. Oder fünf.«
»Er?«, sagte die Ärztin und blickte zum Fenster.
»Das überrascht Sie?«
»Mehr als das. Er war ein Mensch, der nie einen hohen Einsatz wagte.«
»Wie meinen Sie das?«
»So einmal im Monat versuche ich mein Glück im Casino von Deauville. Dort sah ich ihn hin und wieder. Ich habe nie wirklich mit ihm gesprochen, aber man erfährt viel über einen Menschen, wenn man ihn am grünen Tuch beobachtet. Er konnte sich nie entscheiden, er fragte um Rat, er hielt den ganzen Tisch in nervenaufreibender Weise auf, und das alles, um schließlich ganz bescheiden zu setzen. Kein wagemutiger Mensch, kein Gewinnertyp, vielmehr ein kleinmütiger, unselbständiger Spieler. Man kann sich kaum vorstellen,dass er mal selbst eine Idee ausgearbeitet hätte. Und noch weniger einen so grausamen Entschluss. Er lebte nur dank seines Ranges, seines Prestiges, seiner Verbindungen. Das war seine Sicherheit, sein Netz. Ein Netz, verstehen Sie, wie die Trapezkünstler es haben.«
»Und wenn dieses Netz nun zu reißen drohte?«
»In dem Fall ist natürlich alles möglich«, sagte die
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