Die Nacht des Zorns - Roman
Gerichtsmedizinerin. »Wenn lebensbedrohlicher Alarm ausgelöst wird, reagiert der Mensch unberechenbar und dramatisch.«
Adamsberg registrierte diesen Satz, er hätte die Dinge nie so formuliert. Es konnte ihm von Nutzen sein, um den Grafen zu besänftigen. Dramatische Morde, unberechenbarer Selbstmord, nie jemanden in die Enge treiben, so weltgewandt und gesittet er sein mag. Sie alle wussten das, nur konnte man es auf verschiedene Weise ausdrücken. Den Satz vor sich hinmurmelnd, schritt er die große, gebohnerte Eichentreppe hinab, als sein Telefon in seiner Gesäßtasche vibrierte. Die Berührung mit dem angetrockneten Schlamm erinnerte ihn daran, dass er nicht mal daran gedacht hatte, sich eine saubere Hose anzuziehen. Vor der Tür zur Bibliothek blieb er stehen, um Retancourts Mitteilung zu lesen.
Sechs abgeschn Haare auf Kopfstütze vorn links, zwei auf Anzug von Gala. Zim bestätigt kurzgeschn Haar sowie Garagengeruch am Zucker.
Adamsberg presste seine Finger um das Gerät, von jenem kindischen und aufregenden Gefühl von Macht durchströmt, das er am Abend zuvor während des Gewitters empfunden hatte. Eine ganz elementare, brutale, wilde Freude, ein Triumph über die Mächtigen. Er atmete zwei Mal tief durch, strich sich mit der Hand übers Gesicht, um sein Lächeln wegzuwischen, und klopfte an die Flügeltür. Bis der Graf antwortete, aufbrausend und begleitet von einem Schlag seines Stocks auf das Parkett, war ihm der Satz der Gerichtsmedizinerin gänzlich entfallen, untergegangen in den trüben Wassern seines Gehirns.
48
Er hatte Léo besucht, ihr ein Kapitel über Fälle von Zwillingsgeburten bei Pferden vorgelesen, hatte sie auf die Wange geküsst, gesagt: »Ich komme wieder«, und sich von Dr. Merlan verabschiedet. Er war bei den Vendermots vorbeigegangen, hatte die Brüder unterbrochen, die gerade dabei waren, eine Hängematte im Hof anzubringen, und in wenigen Worten den Ausgang der Situation dargelegt, ohne das heiße Thema der Valleray’schen Vaterschaft anzuschneiden. Diese Mühe überließ er Léo oder dem Grafen selbst, wenn er denn jemals den Mumm dazu haben sollte. Vallerays Zorn begann sich zu legen, aber bei dem Schock, der das Schloss erschütterte, bezweifelte Adamsberg, ob er seinen großmäuligen Entschluss, Léo zu heiraten, aufrechterhalten würde. Schon morgen würden die Medien im Lande haarklein über die Verbrechen des Vicomte berichten und der Blutspur, die geradewegs zum Schloss führte, so nahe wie möglich zu kommen suchen.
Die Pressekonferenz war für neun Uhr angesetzt, und Adamsberg überließ es Capitaine Émeri, damit zu glänzen, was ihm in Anbetracht seiner insgesamt wohlwollenden Mitarbeit auch gerecht erschien. Émeri hatte sich überschwänglich dafür bedankt, ohne zu ahnen – er, der alle förmlichen Ansagen liebte, bei denen er prunken konnte –, dass Adamsberg froh war, der Veranstaltung zu entrinnen. Émeri hatte darauf bestanden, den Abschluss der Ermittlung zu feiern, indem er ihn mit Veyrenc, Blériot und Faucheur zum Aperitif in sein Empire-Speisezimmer bat. Blériot hatte die Wurst geschnitten, Faucheur ein paar ekelhaftschmeckende Kir angemischt, und Émeri hatte sein Glas auf die Vernichtung des Feindes erhoben, wobei er bei der Gelegenheit gleich noch an die großen Siege seines Ahns erinnerte: Ulm, Austerlitz, Auerstedt, Eckmühl und vor allem Eylau, die liebste seiner Schlachten. Als Davout, auf seiner rechten Flanke angegriffen, Verstärkung durch das Armeekorps des Marschalls Ney erhielt. Und der Kaiser, seine Männer antreibend, Murat zuschrie: »Wirst du uns von diesen Leuten verschlingen lassen?« Aufgeräumt und als hätte er gut gespeist, hatte sich der Capitaine dabei immer wieder mit der Hand über den Bauch gestrichen, sicherlich, weil er nun von allen seinen Elektrizitätskugeln befreit war.
Er hatte Lina in ihrer Kanzlei aufgesucht und einen letzten Blick auf das Objekt seiner Begierde geworfen. Zusammen mit Veyrenc hatte er Léos Haus in Ordnung gebracht und einen Moment überlegt, ob er nicht ein bisschen Wasser in die Flasche mit dem Calvados gießen sollte, um den Pegelstand wieder aufzufüllen. Sakrileg, Dummerjungenstreich, hatte Veyrenc erklärt, man gießt kein Wasser in einen solchen Calva. Er hatte den Vogeldreck aus seinem linken Schuh gekratzt, die verstreuten Körner zusammengefegt, auf die Matratzenkuhle geklopft, um die Vertiefung auszugleichen. Er hatte vollgetankt, seine Tasche gepackt und war noch einmal ganz
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