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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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den Grund nicht, aber er kannte die Ursache. Irgendetwas war durch sein Denken geschossen wie der Bolzen einer Armbrust, so schnell, dass er es nicht hatte erfassen können. Und doch hatte es genügt, ihn erstarren zu lassen. Wie damals, als er im Hafenbecken von Marseille dieses Flimmern auf dem Wasser bemerkt hatte, wie damals, als er das Plakat auf den Häuserwänden von Paris gesehen hatte, oder wie in jener schlaflosen Nacht im Zug von Venedig nach Belgrad. Und das unsichtbare Bild, das vorübergezogen war, hatte das wässrige Feld seines Gehirns trockengelegt und in seinem Sog weitere nicht wahrnehmbare Visionen mit sich gerissen, eine an der anderen hängend wie eine Kette von Magneten. Er sah weder den Anfang noch das Ende, aber er sah Ordebec und, genauer noch, eine offenstehende Wagentür, die von Blériots altem Auto, auf die er nicht besonders geachtet hatte. Genau das war’s, was er gestern zu Lucio gesagt hatte, es gab irgendwo eine Tür, die nicht richtig geschlossen war, eine Tür, die hin- und herschlug, einen Spinnenbiss, den er nicht zu Ende gekratzt hatte.
    Langsam und mit Bedacht lief er durch die Straßen zum Seine-Ufer hinunter, wohin ihn im Fall innerer Erschütterungen seine Schritte immer führten. Und in solchen Augenblicken spannte Adamsberg, der für Angst oder jede andere heftige Empfindung nahezu unempfänglich war, sichwie eine Saite, ballte die Fäuste, versuchte zu fassen, was er gesehen hatte, ohne es zu sehen, oder gedacht hatte, ohne es zu denken. Es gab keine Methode, um diese Perle aus dem gestaltlosen Haufen seiner Gedanken herauszulösen. Er wusste nur, dass er sich beeilen musste, denn sein Geist war so beschaffen, dass in ihm alles versank. Manchmal hatte er sie schon zu fassen gekriegt, indem er vollkommen unbeweglich verharrte und wartete, bis das flüchtige Bild wabernd wieder an die Oberfläche stieg, manchmal beim Laufen, wenn er im Chaos seiner Erinnerungen wühlte, manchmal im Schlaf, indem er die Gesetze der Schwerkraft wirken ließ, und er fürchtete, wenn er sich vorab für eine Strategie entschied, seine Beute zu verfehlen.
    Nach über einer Stunde Herumlaufen setzte er sich im Schatten auf eine Bank und stützte das Kinn in die Hände. Den Faden des Gesprächs hatte er während Retancourts Rede verloren. Was war in dem Moment geschehen? Nichts. Alle Beamten saßen auf ihren Plätzen, hörten dem Bericht des Lieutenant aufmerksam zu. Mercadet kämpfte mit dem Schlaf, bemüht, sich dennoch seine Notizen zu machen. Alle außer einem. Estalère war herumgegangen. Natürlich hatte er den Kaffee serviert, mit dem Perfektionismus, mit dem er diese Handlung stets ausführte. Der junge Mann war gekränkt gewesen, weil Mercadet den Zucker abgelehnt hatte, den er für gewöhnlich nahm, wobei der Lieutenant auf seinen Bauch gedeutet hatte. Adamsberg nahm die Hände vom Gesicht, presste seine Knie zusammen. Mercadet hatte noch eine Geste gemacht, er hatte die Hand zum Zeichen der Ablehnung gehoben. Genau in dem Augenblick war das Geschoss der Armbrust durch seinen Kopf gegangen. Der Zucker. Es war etwas mit diesem verdammten Zucker, von Anfang an. Der Kommissar hob seine Hand und hielt sie vor sich hin, genau wie Mercadet es getan hatte. Er wiederholte die Geste ein Dutzend Mal, sah wieder die offene Wagentür und Blériot vor seinem defekten Auto. Blériot.Auch Blériot hatte es abgelehnt, Zucker in seinen Kaffee zu tun, als Émeri ihm welchen angeboten hatte. Er hatte schweigend die Hand gehoben, genau wie Mercadet vorhin. Das war in der Gendarmerie, an dem Tag, an dem sie über Denis de Valleray sprachen. Blériot mit seinen von Zuckerstückchen prallen Hemdentaschen, der aber selber keinen in seinen Kaffee tat. Blériot.
    Adamsberg hielt in seiner Handbewegung inne. Da war sie, die Perle, hell schimmernd in der Felsspalte. Die Tür, die er nicht geschlossen hatte. Fünfzehn Minuten später stand er ganz langsam auf, um seine erst schwach ausgeformten und nicht recht begriffenen Empfindungen nicht zu verscheuchen, und kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Er hatte seine Tasche vom Tage zuvor noch nicht ausgepackt, er nahm sie, steckte Hellebaud in den Schuh und brachte alles, so leise er konnte, zu seinem Auto. Er wollte kein Geräusch machen, weil er fürchtete, lautes Sprechen könnte seine Gedankenpartikel, die sich gerade mühsam zu einem Ganzen formten, stören. So schickte er Danglard auf dem Handy, das Retancourt ihm gegeben hatte, nur schlicht eine Mitteilung:
Fahre

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