Die Nacht des Zorns - Roman
ihrer Nase entlang, leckte über das Ende und zündete sie mit Sorgfalt an, Adamsberg die offene Schachtel hinschiebend.
»Die schickt mir ein Freund, er hat sie aus Kuba. Ich habe zwei Jahre in Kuba gelebt, vier in Schottland, drei in Argentinien und fünf auf Madagaskar. Mit Ernest haben wir überall Restaurants aufgemacht, wir haben was von der Welt gesehen. Und Küche vom Feinsten. Seien Sie doch so freundlich und geben Sie uns den Calvados heraus, unten aus dem Wandschrank, und schenken Sie uns zwei Gläschen ein. Sie trinken doch einen Schluck mit mir, nehme ich an.«
Adamsberg folgte ihrer Bitte, er begann sich allmählich sehr wohl zu fühlen in diesem schlecht beleuchteten kleinen Raum, mit dieser Zigarre, diesem Glas, diesem Feuer unddieser großen alten Léo, zerknittert wie ein trockener Putzlappen, und ihrem schnarchenden Hund auf dem Boden.
»Warum bin ich hier, Léo? Wenn ich Sie so nennen darf?«
»Um Lina und ihre Brüder zu schützen. Ich habe keine Kinder, und sie ist ein bisschen wie eine Tochter für mich. Sollte es noch mehr Tote geben, ich meine, wenn die, die sie im Heer gesehen hat, auch sterben, dann ist hier was los. Die gleiche Geschichte ist in Ordebec schon mal passiert, kurz vor der Revolution. Der Mann hieß François-Benjamin, er hatte vier böse Menschen in Hellequins Gefolge gesehen, die von ihm ergriffen worden waren. Aber auch er hatte nur drei der vier Namen nennen können. Wie Lina. Und zwei dieser Männer starben elf Tage später. Da bekamen die Leute solche Angst – wegen der namenlosen vierten Person –, dass sie meinten, sie könnten die Tode der Mesnie aufhalten, wenn sie den umbrächten, der sie gesehen hatte. François-Benjamin wurde mit Heugabeln erschlagen, und dann haben sie ihn auf dem Marktplatz verbrannt.«
»Und der Dritte starb nicht?«
»Doch. Und nach ihm der Vierte, in der vorhergesagten Reihenfolge. So dass es also nichts gebracht hatte, dass sie François-Benjamin aufgespießt hatten.«
Léo nahm einen Calva, spülte sich den Mund, schluckte geräuschvoll und genießerisch, dann tat sie einen langen Zug an ihrer Zigarre.
»Und ich möchte nicht, dass Lina das Gleiche passiert. Die Zeiten haben sich geändert, heißt es. Das will lediglich besagen, dass man heute diskreter ist. Dass man es nicht mit Forke und Feuer tut, sondern auf andere Weise. Alle hier, die eine Untat auf dem Gewissen haben, sind schon starr vor Entsetzen, da können Sie sicher sein. Vor Angst, ergriffen zu werden, und davor, dass sie herauskommt.«
»Eine schwere Untat? Ein Mord?«
»Nicht unbedingt. Ein niederträchtiger Raub, eine Verleumdung oder falsche Rechtsprechung. Es würde sie sehrberuhigen, wenn sie Lina beseitigen und ihr Geschwätz zum Schweigen bringen könnten. Weil das die Verbindung zum Heer unterbricht, verstehen Sie. So sagen sie. Genau wie früher. Wir haben uns nicht groß weiterentwickelt, Kommissar.«
»Ist Lina seit diesem François-Benjamin die Erste, die das Heer wieder gesehen hat?«
»Natürlich nicht, Kommissar«, sagte sie mit ihrer heiseren Stimme in einer Wolke von Qualm, als tadelte sie einen Schüler, der sie enttäuscht. »Wir sind in Ordebec. Es gibt wenigstens einen
passeur
in jeder Generation hier. Der
passeur,
der Fährmann, ist der, der sie sieht, das Verbindungsglied zwischen den Lebenden und dem Heer. Vor Linas Geburt war es Gilbert. Man erzählt sich, er habe überm Weihwasserbecken seine Hand auf den Kopf der Kleinen gelegt und so die Bestimmung an sie weitergegeben. Und wenn man die Bestimmung hat, nützt es einem nichts wegzulaufen, das Heer holt einen immer wieder auf den Grinvèlde zurück. Oder den Grimweld, wie sie im Osten sagen.«
»Aber niemand hat diesen Gilbert getötet, oder?«
»Nein«, sagte Léo und blies eine dicke runde Wolke in die Luft. »Aber der Unterschied ist, dass dieses Mal Lina, wie François-Benjamin, vier Männer gesehen hat, doch nur drei hat benennen können: Herbier, Glayeux und Mortembot. Den vierten nennt sie nicht. Wenn also Glayeux und Mortembot auch sterben, wird die Angst in der ganzen Stadt umgehen. Weil man nicht weiß, wer der Nächste ist, wird sich niemand mehr sicher fühlen. Schon die Ankündigung der Namen von Glayeux und Mortembot hat einen mächtigen Wirbel ausgelöst.«
»Warum?«
»Wegen der Gerüchte, die schon lange über sie in Umlauf sind. Es sind bösartige Männer.«
»Was machen sie?«
»Glayeux baut Fenster für alle Kirchen in der Region, er ist handwerklich sehr
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