Die Nacht des Zorns - Roman
sagst immer nur ein Viertel von dem, was du weißt.«
»Der Rest würde dich nicht interessieren. Du tätest besser daran, dich auf die Socken zu machen, bevor die Tiere ihn fressen. Und wenn du mich sprechen willst, dann morgen.«
Adamsberg legte den Hörer zurück und begann das Feuer anzuzünden.
»Louis Nicolas vermag überhaupt nichts gegen mich«, erklärte Léonie, »ich hab ihm das Leben gerettet, als er ein kleiner Knirps war. Der dumme Bengel war kopfüber in den Jeanlin-Teich gefallen, ich hab ihn am Hosenboden herausgezogen. Mir kann er nicht mit seinem kaiserlichen Marschall kommen.«
»Er stammt hier aus der Gegend?«
»Er ist hier geboren.«
»Wie hat er dann hierher beordert werden können? Man setzt Bullen nie in ihrer Heimatregion ein.«
»Das weiß ich, junger Mann. Aber er hat Ordebec mit elf Jahren verlassen, und seine Eltern waren hier nicht wirklich verwurzelt. Er war lange Zeit in der Nähe von Toulon, dann in der Gegend von Lyon, danach hat er den Dispens bekommen. Er kennt die Leute hier gar nicht mehr richtig. Aber er wird vom Grafen protegiert, da läuft’s von allein.«
»Dem hiesigen Grafen?«
»Rémy, dem Grafen von Ordebec. Sie essen mit von der Suppe, nehme ich an.«
»Danke«, sagte Adamsberg und reichte seinen Teller hin.
»Es ist Mohrrübe. Danach gibt es Braten mit Sahnesauce.«
»Émeri sagt, diese Lina sei total verrückt.«
»Das stimmt nicht«, sagte Léone und fuhr einen großen Löffel Suppe in ihren kleinen Mund ein. »Sie ist ein lebhaftesund anständiges Mädchen, da gibt’s gar nichts. Außerdem hat sie ja nicht unrecht gehabt mit dem, was sie gesagt hat. Er ist tatsächlich tot, Herbier. Louis Nicolas wird ihn finden, so viel steht jedenfalls fest.«
Adamsberg wischte seinen Suppenteller mit einem Stück Brot aus, wie Léo, und trug den Braten herein: Kalb mit grünen Bohnen, und mit ihm den Geruch von Holzfeuer.
»Und da sie nicht so sehr beliebt sind, sie und ihre Brüder«, fuhr Léone fort, während sie das Fleisch ein bisschen rabiat zerteilte, »wird’s einen schönen Schlamassel geben. Denken Sie nicht, dass sie nicht nett wären, aber die Leute haben immer Angst vor dem, was sie nicht begreifen. Und Lina mit ihrer besonderen Gabe, und ihre Brüder, die auch nicht gerade angepasst sind, das trägt nicht zu ihrem guten Ruf bei.«
»Im Zusammenhang mit dem Wütenden Heer.«
»Damit und mit anderen Dingen. Die Leute sagen, dass sie den Teufel im Haus haben. Hier ist es wie überall, es gibt eine Menge Hohlköpfe, die füllen sich schnell mit irgendwas, wenn möglich, mit dem Schlimmsten. Denn das mögen sie alle, das Schlimmste. Man langweilt sich ja so.«
Léone unterstrich ihre Erklärung mit einer Kinnbewegung und verschlang einen großen Bissen Fleisch.
»Sie haben Ihre Meinung zum Wütenden Heer, nehme ich an«, sagte Adamsberg, Léones Methode folgend, um sie auszufragen.
»Das kommt drauf an, wie man es sieht. In Ordebec denkt so manch einer, dass der Seigneur Hellequin im Dienst des Satans steht. Ich selbst glaube nicht allzu viel, aber wenn einige Leute überleben, weil sie heilig sind, wie der heilige Antonius, warum überleben dann andere nicht, weil sie boshaft sind? Denn die in Hellequins Gefolge sind allesamt böse Menschen. Wissen Sie das?«
»Ja.«
»Und darum werden sie ergriffen. Andere wieder meinen,dass die arme Lina Visionen hat, dass sie krank ist im Kopf. Sie war schon bei Ärzten, aber sie haben nichts gefunden. Wieder andere sagen, dass ihr Bruder Satansröhrlinge ins Pilzomelette mischt und sie davon Halluzinationen kriegt. Sie kennen den Satansröhrling, nehme ich an. Den mit dem roten Fuß.«
»Ja.«
»Tatsächlich«, sagte Léone ein wenig enttäuscht.
»Er verursacht allenfalls schwere Bauchschmerzen.«
Léone trug die Teller in die dunkle kleine Küche und machte sich schweigend an den Abwasch, ganz in ihre Aufgabe vertieft. Adamsberg trocknete ab.
»Mir ist das alles egal«, hob Léone wieder an, während sie ihre großen Hände trocknete. »Es geht ja nur darum, dass Lina das Heer sieht, und das, das ist sicher. Ob dieses Heer wahr ist oder falsch, darüber kann ich nicht urteilen. Doch jetzt, wo Herbier tot ist, werden die anderen über sie herfallen. Schließlich sind Sie ja auch deswegen hier.«
Die alte Frau griff wieder zu ihren Stöcken und kehrte zu ihrem Platz am Tisch zurück. Aus der Schublade zog sie eine Zigarrenkiste von beachtlichem Format. Sie nahm eine Zigarre heraus, führte sie unter
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