Die Nacht des Zorns - Roman
lächelte er freimütig, was sein »gutherziges Wesen« erkennen ließ, von dem Léo gesprochen hatte, liebenswürdig und geradeheraus.
»Erstaunt?«
»Das kann man sagen. Sie ist arm. Léo sagte mir, dass der Graf von Ordebec vermögend wäre.«
»Sie war die erste Frau des Grafen, aber das war vor sechzig Jahren. Eine heiße Jugendliebe. Es gab deswegen einen Mordsskandal in der gräflichen Familie, die einen solchenDruck ausübte, dass die Ehe zwei Jahre später geschieden wurde. Man erzählt sich, dass sie sich noch lange Zeit danach immer getroffen haben. Aber mit der Zeit siegte die Vernunft, und jeder ging wieder seines Wegs. Doch lassen wir Léo«, sagte Émeri und hörte auf zu lächeln. »Als Sie gestern zu diesem Weg kamen, da wussten Sie nichts? Ich meine: Als Sie mich am selben Morgen aus Paris anriefen, wussten Sie nicht, dass Herbier tot war und tot in der Nähe der Kapelle lag?«
»Nein.«
»Nehmen wir’s mal an. Machen Sie das oft, die Brigade verlassen, um unter dem erstbesten Vorwand im Wald spazieren zu gehen?«
»Oft.«
Émeri trank einen Schluck Kaffee und sah auf.
»Tatsächlich?«
»Ja. Vergessen Sie nicht diese ganze Brotkrume am Morgen.«
»Und was sagen Ihre Leute dazu?«
»Unter meinen Leuten, Capitaine, ist einer, der an Hypersomnie leidet und ganz unvermittelt zusammenbricht, ein Zoologe mit dem Spezialgebiet Fische, vor allem Süßwasserfische, eine Bulimikerin, die gelegentlich verschwindet, um ihre Essensvorräte aufzufüllen, ein alter Reiher, der beschlagen ist in Märchen und Legenden, ein Monster an Wissen, das am Weißwein hängt, und das alles, wie’s gerade kommt. Die können sich nicht erlauben, sehr förmlich zu sein.«
»Und gearbeitet wird da auch?«
»Viel.«
»Was hat Léo zu Ihnen gesagt, als Sie ihr begegneten?«
»Sie grüßte mich, sie wusste schon, dass ich Bulle bin und aus Paris komme.«
»Das wundert mich nicht, sie hat mehr Gespür als ihr Hund. Sie wäre übrigens entrüstet, dass ich es Gespür nenne.Sie hat so ihre eigene Theorie über die verknüpften Wirkungen von Dingen aufeinander. Die Sache mit dem Schmetterling in New York, der einen Flügel bewegt, woraufhin es in Bangkok zu einer Explosion kommt. Ich habe vergessen, woher diese Geschichte stammt.«
Adamsberg schüttelte den Kopf, er wusste es auch nicht.
»Léo beharrt auf dem Schmetterlingsflügel«, fuhr Émeri fort. »Sie sagt, entscheidend ist, dass man ihn in dem Moment sieht, wo er sich bewegt. Und nicht erst dann, wenn schon alles in die Luft fliegt. Und dafür ist sie begabt, das muss man ihr lassen. Lina sieht das Wütende Heer vorüberziehen. Das ist der Schmetterlingsflügel. Ihre Chefin erzählt es weiter, Léo erfährt es, die Mutter kriegt Angst, der Vikar nennt ihr Ihren Namen – ich irre mich doch nicht? –, sie steigt in den Zug, ihre Story beeindruckt Sie, es herrschen 36 Grad in Paris, eine Frau ist mit Brotkrume erstickt worden, der Gedanke an die frische Luft auf dem Grimweld verführt Sie, auf dem Pfad lauert Léo, und nun sitzen Sie hier.«
»Was nicht gerade eine Explosion ist.«
»Aber der Tod von Herbier schon. Er ist die Explosion von Lisas Traum in der Wirklichkeit. Als hätte der Traum einen Wolf aus dem Wald gelockt.«
»Der Seigneur Hellequin hat ein paar Opfer bestimmt, und ein Mensch glaubt sich legitimiert, sie zu töten. Ist es das, was Sie denken? Dass Linas Vision einen Mörder auf den Plan gerufen hat?«
»Es ist nicht einfach eine Vision, es ist eine Legende, die Ordebec seit tausend Jahren prägt. Man kann darauf wetten, dass insgeheim über drei Viertel der Bewohner den Durchzug der toten Reiter fürchten. Sie alle würden zittern, wenn ihr Name durch Hellequin verkündet würde. Aber sie würden es nicht sagen. Ich kann Ihnen versichern, dass keiner bei Nacht über den Grimweld geht, außer ein paar Jugendlichen, die das als Mutprobe auffassen. Eine Nacht aufdem Weg von Bonneval zu verbringen gilt als eine Art Initiationsritus, mit dem man beweist, dass man ein Mann geworden ist. Ein Schülerstreich mit mittelalterlichem Anstrich, wenn Sie wollen. Aber dass jemand so ernsthaft daran glaubte, dass er sich zum Vollstrecker von Hellequins Werken machen würde, nein. Einen Punkt allerdings räume ich ein: Der Terror, den die Vorstellung von dem Heer verbreitet, steht am Ursprung von Herbiers Tod. Ich sagte ›Tod‹, und nicht ›Ermordung‹.«
»Léo sprach von einem Gewehrschuss.«
Émeri nickte. Jetzt, da seine kampfeslustigen
Weitere Kostenlose Bücher