Die Nacht des Zorns - Roman
begabt, aber kein besonders liebenswerter Mensch. Er hält sich für was Besseres als die Bauernärsche hier und lässt das alle Welt auch gern wissen. Dabei war sein Vater nur Kunstschmied in Charmeuil-Othon. Und ohne die Bauernärsche, die so fleißig zur Messe gehen, bekäme er keine Aufträge für Kirchenfenster. Mortembot ist Pflanzenzüchter an der Straße nach Livarot, der ist ein schweigsamer Mensch. Es leuchtet ein, dass sie, seitdem das Gerücht umläuft, beide ein Problem haben. Die Kundschaft in der Baumschule macht sich rar, man geht ihnen aus dem Weg. Und wenn erst bekannt wird, dass Herbier tot ist, wird es noch viel schlimmer werden. Darum sage ich ja, Lina hätte besser geschwiegen. Aber die Fährleute haben von jeher dieses Problem. Sie fühlen sich verpflichtet zu reden, um den Ergriffenen eine Chance zu geben. Sie verstehen, vermute ich, was die ›Ergriffenen‹ sind.«
»Ja.«
»Die Fährleute reden, denn es könnte ja sein, dass es den Ergriffenen gelingt, ihr Unrecht wiedergutzumachen. Darum also ist Lina in Gefahr, und Sie könnten sie schützen.«
»Ich kann überhaupt nichts tun, Léo, es ist Émeris Fall.«
»Aber Émeri macht sich keine Gedanken um Lina. Diese ganze Geschichte mit dem Wütenden Heer nervt ihn, sie widert ihn an. Er glaubt, wir haben uns verändert, er glaubt, dass die Leute vernünftig geworden sind.«
»Erst mal wird man Herbiers Mörder suchen. Und die beiden anderen sind ja noch am Leben. So dass auch Lina im Augenblick nicht bedroht ist.«
»Mag sein«, sagte Léo und blies auf ihren Zigarrenstummel.
Um in eines der Schlafzimmer zu gelangen, musste man aus dem Haus hinausgehen, jedes Zimmer führte direkt nach draußen durch eine elend knarrende Tür, die Adamsberg an Tuilot Juliens Tür erinnerte, jene Tür, die ihm dieAnklage erspart hätte, wenn er es gewagt hätte, sie zu benutzen. Léo wies ihm mit ihrer Stockspitze sein Zimmer.
»Man muss sie anheben, damit sie nicht allzu sehr kreischt.«
»Ich weiß nicht mal Ihren Namen, Léo.«
»Den wollen die Polizisten immer wissen. Und Ihrer?«, fügte sie hinzu und spuckte ein paar Tabakkrümel aus, die ihr auf der Zunge kleben geblieben waren.
»Jean-Baptiste Adamsberg.«
»Wundern Sie sich nicht, in Ihrem Zimmer steht eine ganze Sammlung alter pornografischer Bücher aus dem 19. Jahrhundert. Die hat mir ein Freund vererbt, seine Familie duldete so was nicht im Haus. Sie können sie sich natürlich anschauen, aber seien Sie vorsichtig beim Umblättern, sie sind alt, und das Papier ist brüchig geworden.«
8
Am Morgen streifte Adamsberg seine Hose über und ging leise nach draußen, die bloßen Füße im feuchten Gras. Es war 6 Uhr 30, und der Tau war noch nicht verdunstet. Er hatte wunderbar geschlafen auf einer alten Wollmatte, mit einer Kuhle in der Mitte, in die er sich hineingeschmiegt hatte wie ein Vogel ins Nest. Er lief einige Minuten durch die Wiese, bevor er fand, was er suchte, ein biegsames Holzstöckchen, dessen Ende, wenn er es zu einem kleinen Besen zerfranste, ihm als Zahnbürste dienen konnte. Er war gerade dabei, das Ende seines Stocks zu schälen, als Léo den Kopf aus dem Fenster steckte.
»Hello, Capitaine Émeri hat angerufen und nach Ihnen verlangt, er hörte sich nicht sehr friedlich an. Kommen Sie, der Kaffee ist heiß. Man holt sich was, wenn man mit bloßen Füßen draußen bleibt.«
»Wie hat er erfahren, dass ich hier bin?«, fragte er, während er zu ihr ins Haus ging.
»Ich vermute, dass er die Geschichte mit dem Cousin nicht geschluckt hat. Er wird sich seinen Teil gedacht haben bei dem Menschen aus Paris, der gestern aus dem Bus gestiegen ist. Er sagte, er hätte nicht gern einen Bullen im Rücken und auch nicht, dass ich ihm den verheimlichte. Als wenn wir ein Komplott geschmiedet hätten, wie in Zeiten des Krieges. Der kann Ihnen Ärger machen, wissen Sie.«
»Ich werde ihm die Wahrheit sagen. Ich bin hergekommen, um mir anzusehen, was in etwa ein Grimweld ist«, sagte Adamsberg, während er sich eine dicke Scheibe Brot abschnitt.
»Genau. Und ein Hotel gab es nicht.«
»Bitte.«
»Mit dieser Vorladung aufs Revier werden Sie den Zug um 8 Uhr 50 von Lisieux nicht mehr schaffen. Dann nehmen Sie den nächsten von Cérenay, um 14 Uhr 35. Aber kalkulieren Sie ein, dass Sie mit dem Bus Ihre halbe Stunde brauchen. Wenn Sie aus dem Haus kommen, gehen Sie nach rechts, dann wieder nach rechts und dann achthundert Meter geradeaus Richtung Stadtzentrum. Die Gendarmerie ist
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