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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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betrachtete. Danglard hatte die Augen wieder aufgemacht, er witterte eine neue intellektuelle Erfahrung.
    »Aber man muss ein Genie sein, um das hinzukriegen«, sagte Adamsberg mit gerunzelter Stirn.
    »Hippolyte ist ein Genie. Alle in der Familie sind es, auf ihre Art. Darum respektiert man sie hier auch, und man kommt ihnen nicht zu nahe. Ein bisschen, als wären sie übernatürliche Wesen. Einige Leute meinen, man sollte sie abschieben, andere sagen, dass es gefährlich wäre, sich an sie heranzuwagen. Und Hippolyte mit all seinen Talenten hat sich nie eine Arbeit gesucht. Er kümmert sich um das Haus, den Gemüse- und den Obstgarten, das Federvieh. Sie leben ziemlich autark dort auf dem Hof.«
    »Und der dritte Bruder?«
    »Martin ist längst nicht so imponierend, aber trau nicht dem Schein. Er ist lang und dünn wie eine braune Garnele, mit riesigen Pranken. Er sammelt auf Wiesen und im Wald alle Arten von Insekten zum Essen, Heuschrecken, Raupen, Schmetterlinge, Ameisen, was weiß ich. Es ist widerlich.«
    »Isst er sie roh?«
    »Nein, er brät sie. Als Hauptgericht oder als Gewürzbeilage.Ekelhaft. Aber mit seiner Ameisenkonfitüre, die ja eine therapeutische Wirkung haben soll, hat er sich sogar eine gewisse Kundschaft in der Region herangezogen.«
    »Und die ganze Familie isst davon?«
    »Vor allem Antonin. Seinetwegen hat Martin überhaupt mit dem Insektensammeln angefangen, zur Stärkung seiner tönernen Knochen. Was sich in Hippolytes Sprache ›nenrenöt‹ spricht.«
    »Und die Tochter? Außer, dass sie die Gabe besitzt, das Wütende Heer zu sehen?«
    »Sonst nichts weiter, was erwähnenswert wäre, allerdings versteht sie problemlos die Rückwärts-Sätze ihres Bruders Hippo. Das ist zwar nicht so schwer, wie sie zu formulieren, aber man muss trotzdem ganz schön was auf dem Kasten haben.«
    »Empfangen sie Besucher?«
    »Sie sind sehr gastfreundlich gegenüber Leuten, die bereit sind, zu ihnen zu kommen. Offen, ja fröhlich, sogar Antonin. Wer sie fürchtet, sagt, diese Herzlichkeit sei gespielt, um die Leute anzulocken, und wenn du erst mal eingetreten bist, seist du geliefert. Mich mögen sie nicht, aus den Gründen, die ich dir nannte, und weil ich sie für verrückt halte, aber du brauchst mich ja nicht zu erwähnen, dann dürfte alles klargehen.«
    »Wer war so intelligent in der Familie? Der Vater? Die Mutter?«
    »Weder noch. Die Mutter hast du in Paris ja schon gesehen, wenn ich mich nicht irre. Sie ist sehr unscheinbar und ein eher stiller Mensch, sie kümmert sich ein wenig um den Haushalt. Wenn du ihr eine Freude machen willst, bring ihr ein paar Blumen mit. Das mag sie sehr, denn der Folterknecht – ihr Mann – hat ihr nie welche geschenkt. Die trocknet sie dann, indem sie sie mit den Köpfen nach unten aufhängt.«
    »Warum sagst du ›Folterknecht‹?«
    Émeri erhob sich mit einer Grimasse.
    »Geh erst mal hin. Vorher aber«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »lauf über den Weg von Bonneval, nimm ein kleines Klümpchen Erde auf und steck’s in deine Tasche. Man sagt hier, das schütze vor Linas Macht. Vergiss nicht, dieses Mädchen ist die Flügeltür in der Wand, die die Lebenden von den Toten trennt. Mit einem Stück Erde kann dir nichts passieren. Aber da nichts so ganz einfach ist, geh nicht näher als einen Meter an sie heran, denn es heißt, sie riecht es, buchstäblich, meine ich, wenn du Erde vom Weg bei dir hast. Und das mag sie nicht.«
    Während er neben Danglard zum Wagen lief, legte Adamsberg die Hand auf seine Hosentasche und fragte sich, welcher gute Geist ihm schon viel früher den Gedanken eingegeben hatte, sich ein Klümpchen Erde vom Bonneval mitzunehmen. Und warum er dieses Klümpchen noch immer bei sich trug.

22
    Adamsberg wartete vor dem Anwaltsbüro – der Kanzlei Deschamps et Poulain – in einer der hochgelegenen Gassen von Ordebec. Seltsam, an welchem erhöhten Punkt der kleinen Stadt auch immer man sich befand, man sah zu Statuen erstarrte Kühe im Schatten der Apfelbäume. Jeden Augenblick würde Lina herauskommen, mit der er verabredet war, in der Zeit würde er nicht eine Kuh sich bewegen sehen. Vielleicht war es unter diesem Gesichtspunkt sogar ergiebiger, seine Aufmerksamkeit auf eine einzige zu konzentrieren, statt das ganze Feld im Auge zu haben.
    Er hatte die Dinge nicht überstürzen wollen, indem er Lina Vendermot zur Gendarmerie bestellte, darum hatte er sie in die
Rasende Wildsau
eingeladen, wo man unter niedrigem Gebälk diskret

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