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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Herbier?«
    »Herbier war ein abscheulicher Mensch. Er musste immer irgendwo reinschießen. Aber er war ein völlig kaputter Typ. Glayeux und Mortembot sind nicht kaputt, sie töten, wenn es von Vorteil für sie ist. Zweifellos schlimmer als Herbier.«
    Adamsberg zwang sich, schneller zu essen, als er es gewöhnt war, um dem Tempo der jungen Frau zu folgen. Er wollte nicht mit noch halbgefülltem Teller vor ihr sitzen.
    »Aber es heißt, um das Wütende Heer zu sehen, muss man selber ein bisschen kaputt sein. Oder lügen.«
    »Denken Sie, was Sie wollen. Ich sehe das Heer, und dafür kann ich nichts. Ich sehe es auf dem Weg von Bonneval, ich bin dort unterwegs, obwohl ich drei Kilometer entfernt wohne.«
    Lina rollte jetzt mit der Spitze ihrer Gabel Kartoffelstückchen in einer Sahnesoße, mit einer Energie und einem Eifer, die ihn überraschten. Einer fast schon peinlichen Gier.
    »Man könnte auch sagen, dass es sich um eine Vision handelt«, hob Adamsberg wieder an. »Eine Vision, in der Sie Menschen in Szene setzen, die Sie hassen. Herbier, Glayeux, Mortembot.«
    »Ich habe Ärzte aufgesucht, wissen Sie«, sagte Lina, ihren Bissen genüsslich auskostend. »Im Krankenhaus von Lisieux haben sie zwei Jahre lang einen Haufen physiologischer und psychiatrischer Untersuchungen mit mir angestellt. Das Phänomen interessierte sie, wegen der heiligen Thérèse natürlich. Sie suchen eine beruhigende Erklärung, Kommissar, und ich habe sie auch gesucht. Aber es gibt keine. Sie haben keinen Mangel an Lithium oder sonstigen Substanzen bei mir festgestellt, die bewirken, dass einer die Heilige Jungfrau sieht oder Stimmen hört. Sie waren der Meinung, dass ich ausgeglichen bin, von stabiler Gesundheit und sogar ziemlich vernünftig. Und haben mich meinem Schicksal überlassen, ohne irgendwelche Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.«
    »Und was sollte man daraus schließen, Lina? Dass das Wütende Heer existiert, dass es tatsächlich über den Weg von Bonneval zieht und dass Sie es wirklich sehen?«
    »Ich kann nicht versichern, dass es existiert, Kommissar. Aber ich bin sicher, dass ich es sehe. Soweit man zurückdenken kann, hat es immer irgendeinen Menschen gegeben, der das Heer durch Ordebec hat ziehen sehen. Vielleicht gibt es irgendwo dort draußen eine alte Wolke, einen Rauch, ein Chaos, eine schwebende Erinnerung. Vielleicht laufe ich da hindurch, so, wie man durch einen Nebel geht.«
    »Und wie sieht er aus, dieser Seigneur Hellequin?«
    »Blendend«, erwiderte Lina sehr schnell. »Ein Gesicht, ernst und vornehm, schmutzige blonde Haare, die ihm bis zu den Schultern über seine Rüstung fallen. Aber auch schaurig. Also weil«, fügte sie zögernd und sehr viel leiser hinzu, »weil seine Haut nicht normal ist.«
    Lina unterbrach sich und aß hastig ihren Teller leer, miteinem großen Vorsprung vor Adamsberg. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, strahlender noch und entspannter als zuvor durch die erfolgte Sättigung.
    »Hat es geschmeckt?«
    »Phantastisch«, sagte sie treuherzig. »Ich war noch nie hier. Das können wir uns nicht leisten.«
    »Wir werden uns noch Käse und ein Dessert bestellen«, fügte Adamsberg hinzu, der sich wünschte, dass die junge Frau sich vollends entspannte.
    »Aber werden Sie erst mal fertig«, sagte sie liebenswürdig. »Sie essen ja nicht gerade schnell. Dabei sagt man, dass Polizisten immer alles in Eile machen müssen.«
    »Ich kann überhaupt nichts eilig machen. Selbst wenn ich renne, renne ich langsam.«
    »Der Beweis«, unterbrach ihn Lina, »als ich das Heer das erste Mal sah, wusste ich noch gar nichts von ihm, niemand hatte mir je davon erzählt.«
    »Aber man sagt, in Ordebec würde jeder es kennen, auch wenn es ihm keiner beigebracht hat. Es scheint, man erfährt es, wenn man auf die Welt kommt, mit dem ersten Atemzug, mit der Muttermilch.«
    »Nicht bei meinen Eltern. Sie haben immer sehr isoliert gelebt. Man hat Ihnen vermutlich schon erzählt, dass man mit einem wie meinem Vater nicht verkehrte.«
    »Hat man.«
    »Und das stimmt. Als ich meiner Mutter erzählte, was ich gesehen hatte – und ich weinte viel zu der Zeit, ich schrie –, hat sie geglaubt, ich wäre krank, ich hätte eine Art ›Nervenleiden‹, wie man damals sagte. Von der Mesnie Hellequin hatte sie noch nie gehört, auch mein Vater nicht. Im Übrigen kam er oft spätabends von der Jagd und nahm den Weg von Bonneval. Doch von denen, die die Geschichte kennen, ist nie einer nach Einbruch der Nacht

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