Die Nacht des Zorns - Roman
ganze Flaschen teilen zu müssen war während des Essens ein unerquickliches Ärgernis für ihn gewesen.
»Im Umfeld von Glayeux und Mortembot gab es zwei gewaltsame Tode«, begann Émeri, während er einschenkte. »Vor sieben Jahren stürzte an der Kirche von Louverain Glayeux’ Kollege vom Gerüst. Sie hockten beide dort in gut zwanzig Metern Höhe, wo sie Restaurierungsarbeiten an den Fenstern des Kirchenschiffs ausführten. Und vor vier Jahren kam die Mutter von Mortembot im Lagerraum der Baumschule ums Leben. Sie rutschte von einer Trittleiter und klammerte sich im Fallen an das Metallgestell mit den Blumentöpfen und den kiloschweren Pflanzkübeln voller Erde drauf, das über ihr zusammenbrach. Zwei eindeutige Unfälle. Und in beiden Fällen eine ähnliche Ursache: ein Sturz. Ich habe im einen wie im anderen Fall Ermittlungen eingeleitet.«
»Auf Grund welcher Fakten?«, fragte Danglard und trank erleichtert sein nächstes Glas Wein.
»In Wirklichkeit, weil Glayeux und Mortembot zwei Hurensöhne sind, jeder in seiner Art. Zwei Gullyratten, und das sieht man von weitem.«
»Es gibt auch sympathische Gullyratten«, meinte Adamsberg, »Toni und Marie zum Beispiel.«
»Wer ist das?«
»Zwei verliebte Ratten, aber vergiss sie«, erwiderte Adamsberg und schüttelte den Kopf.
»Die jedenfalls sind nicht sympathisch, Adamsberg. Für Kohle und für Erfolg würden die ihre Seele verkaufen, und ich bin sicher, das haben sie auch getan.«
»Dem Seigneur Hellequin verkauft«, meinte Danglard.
»Warum nicht, Commandant. Ich bin nicht der Einzige, der das hier denkt. Als der Buisson-Hof abgebrannt ist, haben sie nicht einen Cent für die Familie gespendet. So sind sie. Sie halten alle Bewohner von Ordebec für Bauerntrottel, die ihres Interesses unwürdig sind.«
»Auf welches Motiv hin haben Sie die erste Ermittlung eingeleitet?«
»Darauf, dass Glayeux ein gesteigertes Interesse daran hatte, seinen Kollegen loszuwerden. Der kleine Tétard, so hieß er, war sehr viel jünger als er, aber er konnte was auf seinem Gebiet, ja er hatte sich sogar allmählich zu einem herausragenden Glaskünstler entwickelt. Die Gemeinden in der Region begannen, lieber ihm die Aufträge zu geben als Glayeux. Es war absehbar, dass der Junge Glayeux in kurzer Zeit verdrängen würde. Einen Monat vor seinem Sturz hatte die Stadt Coutances – kennen Sie die Kathedrale …?«
»Ja«, versicherte Danglard.
»… hatte Coutances sich bei der Restaurierung eines der Fenster des Querschiffs für Tétard entschieden. Das war ja nicht irgendwas. Wenn der Junge das gepackt hätte, hätte ihm eine große Karriere bevorgestanden. Und Glayeux wäre erledigt gewesen und gedemütigt außerdem. Aber dann stürzte Tétard vom Gerüst. Und die Stadt Coutances wandte sich wieder an Glayeux.«
»Klar«, murmelte Adamsberg. »Was hat die Untersuchung des Gerüsts ergeben?«
»Es war nicht ordnungsgemäß aufgebaut, die Planken waren nicht ausreichend an den Metallrohren fixiert, die Halterungen hatten Spielraum. Glayeux und Tétard arbeiteten an verschiedenen Fenstern, also auf verschiedenen Planken. Glayeux brauchte nur ein paar Schrauben zu lockern, ein Brett in der Nacht zu verschieben – er hatte während der Arbeiten den Schlüssel zur Kirche – und es in eine instabile Lage auf dem Gestänge zu bringen. Und schon war’s passiert.«
»Was unmöglich zu beweisen war.«
»Eben«, sagte Émeri voll Bitterkeit. »Wir konnten Glayeux noch nicht mal wegen beruflicher Fahrlässigkeit belangen, denn das Gerüst hatte Tétard aufgebaut, zusammen mit einem Cousin. Auch Mortembot konnten wir nichts beweisen. Er war nicht im Lager, als seine Mutter stürzte, er räumte im Laden gerade die neugelieferte Ware ein. Aber es ist kein Kunststück, so eine Leiter aus der Entfernung zum Umfallen zu bringen. Man braucht bloß an einem Fuß ein Seil anzubinden und von fern dran zu ziehen. Auf das Getöse hin ist Mortembot hinübergerannt mit einem Angestellten. Aber da war kein Seil.«
Émeri sah Adamsberg beinahe herausfordernd an, als verlangte er von ihm die Lösung.
»Er hat das Seil nicht angeknotet«, sagte Adamsberg, »er hat es einfach um den Fuß herumgeschlungen. Dann brauchte er von seinem Platz aus nur an einem der beiden Enden zu ziehen, um es in seiner ganzen Länge zu sich zurückzuholen. Das braucht allenfalls ein paar Sekunden, wenn das Seil gut gleitet.«
»Genau. Und es hinterlässt keinerlei Spuren.«
»Schließlich kann nicht jeder
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