Die Nacht des Zorns - Roman
ich es im Allgemeinen auch heraus. Ein Relikt, ein mächtiges Relikt einstiger Privilegien. Wie ich auch weiß, dass Sie gegen die Clermont-Brasseur-Gruppe vorgehen.«
»Nein, Herr Graf. Niemand geht gegen die Clermonts vor, ich so wenig wie ein anderer.«
»Ende 16. Jahrhundert?«, mutmaßte Danglard, über das Bild gebeugt. »Schule von François Clouet?«, fügte er leiser, weil nicht ganz so sicher, hinzu.
»Ja, oder, wenn man träumen wollte, sogar ein Werk des Meisters selbst, der sich für dieses eine Mal von den Zwängen des Porträtmalers befreit hätte. Doch wir haben keinen sicheren Anhaltspunkt dafür, dass er in die Pyrenäen gereist wäre. Wenn er auch 1570 Jeanne d’Albret gemalt hat, die Königin von Navarra. Vielleicht sogar in ihrer Stadt Pau.«
Danglard kam zurück und setzte sich wieder, beinahe verstört und mit leerem Glas. Das Bild war eine Rarität und ein Vermögen wert, Adamsberg schien sich dessen nicht bewusst zu sein.
»Schenken Sie sich doch nach, Commandant. Das Aufstehen fällt mir ein bisschen schwer. Und füllen Sie mein Glas auch gleich noch mal. Es kommt nicht oft vor, dass eine solche Hoffnung in mein Haus tritt.«
Adamsberg sah nicht auf das Bild, auch nicht zu Danglard oder zum Grafen. Er dachte an das Wort
Maschine,
das sich plötzlich aus seinem Ganggestein gelöst hatte und gegen Dr. Merlan schlug, dann gegen den jungen Mann mit den tönernen Knochen und gegen das Bild von Martins Fingern, wie sie die Mixtur auf der Haut seines Bruders verrieben.
»Ich kann das nicht«, sagte er. »Dazu bin ich nicht befähigt.«
»Doch«, beharrte der Graf und tippte mit der Spitze seines Stocks auf das gebohnerte Parkett, wobei ihm auffiel, dass Adamsbergs Blick, der ihm ohnehin schon etwas vage vorgekommen war, in ein nebulöses Schattenreich abzudriften schien.
»Ich kann es nicht«, wiederholte Adamsberg wie mit abwesender Stimme. »Ich leite eine Ermittlung.«
»Ich werde mit Ihren Vorgesetzten reden. Sie können Léo nicht fallenlassen.«
»Nein.«
»Also?«
»Ich kann nicht, aber jemand anders kann. Léo lebt, Léoist bei Bewusstsein, aber alles in ihr ist defekt. Ich kenne einen Menschen, der diese Art Pannen repariert, für die es keinen Namen gibt.«
»Ein Scharlatan?«, der Graf zog fragend seine weißen Brauen hoch.
»Ein Wissenschaftler. Der seine Wissenschaft aber auch praktiziert, und mit geradezu übermenschlichem Talent. Der gestörte Schaltkreise in Gang setzt, ein Gehirn wieder mit Sauerstoff versorgt, den Saugreflex kleiner Katzen repariert, erstarrte Lungen deblockiert. Ein Experte für das Funktionieren der menschlichen Maschinerie. Ein Meister. Er wäre unsere einzige Chance, Graf.«
»Valleray.«
»Er wäre unsere einzige Chance, Valleray. Er könnte sie von da zurückholen. Ohne dass ich etwas versprechen will.«
»Womit arbeitet er? Mit Medikamenten?«
»Mit seinen Händen.«
»Eine Art Magnetiseur?«
»Nein. Er öffnet Ventile, schiebt Organe an die richtige Stelle, betätigt Hebel, reinigt verstopfte Filter, kurz, er setzt den Motor wieder in Gang.« 1
»Schicken Sie den Mann zu mir«, sagte der Graf.
Adamsberg lief durch den Raum, das alte Parkett knarrte unter seinen Schritten, und er schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht möglich«, sagte er.
»Ist er im Ausland?«
»Er ist im Gefängnis.«
»Großer Gott.«
»Dazu brauchten wir eine Sondergenehmigung für eine zeitweilige Haftaufhebung.«
»Wer kann die erteilen?«
»Der Strafvollzugsrichter. Im Fall unseres Arztes ist dasder alte de Varnier, ein ausgesprochen sturer Bock, der wird davon überhaupt nichts hören wollen. Einen Gefangenen aus Fleury herauszuholen, damit er am Krankenbett einer alten Frau in Ordebec seine Talente entfaltet, hat für ihn einen Dringlichkeitswert gleich null, darauf wird er nie eingehen.«
»Raymond de Varnier?«
»Ja«, sagte Adamsberg, indem er weiter seine Runden durch die Bibliothek drehte, ohne auch nur einen Blick auf das Bild aus der Schule von Clouet zu werfen.
»Kein Problem, er ist ein Freund von mir.«
Adamsberg wandte sich zum Grafen um, der lächelte, die Augenbrauen vergnügt nach oben gezogen.
»Raymond de Varnier kann mir nichts abschlagen. Wir werden Ihren Experten kommen lassen.«
»Sie brauchen einen triftigen Grund, ebenso plausibel wie nachprüfbar.«
»Seit wann brauchen unsere Richter einen Grund? Doch spätestens seit dem heiligen Ludwig nicht mehr. Schreiben Sie mir nur den Namen dieses Arztes auf und den Ort, wo er
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