Die Nacht des Zorns - Roman
Antwort recht bedacht zu haben.
»Das glaube ich. Und dabei haben Sie sie nur ein paar Stunden lang erlebt. Sie waren es, der sie gefunden hat, als sie verletzt am Boden lag. Und Sie waren es, der sie wieder zum Sprechen gebracht hat. Was uns vermutlich davor bewahrt hat, dass Dr. Merlan sie für hirntot erklärte.«
»Ich bin mit diesem Arzt aus ebendem Grund aneinandergeraten.«
»Das überrascht mich nicht. Er kann mitunter ein richtiger Toidi sein, ist es aber nicht immer.«
»Sie mögen Hippolytes Wörter, Herr Graf?«, fragte Danglard.
»Nennen Sie mich Valleray, das kommt uns allen entgegen. Ich kenne Hippo seit seiner Geburt. Und ich finde diesen Begriff recht zutreffend.«
»Wann hat er angefangen, die Buchstaben umzukehren?«
»Mit dreizehn. Er ist eine Ausnahmeerscheinung, und dasselbe gilt für seine Brüder und die Schwester. Von Lina geht ein ganz ungewöhnliches Licht aus.«
»Das ist dem Kommissar nicht entgangen«, bemerkte Danglard, den das süffige Aroma des Calvados wie zuvor schon der Anblick des Schlosses zutiefst besänftigte.
»Ihnen aber wohl?«, fragte Valleray erstaunt.
»Nein«, musste Danglard zugeben.
»Sehr gut. Und mein Calva?«
»Vorzüglich.«
Der Graf tauchte ein Stück Zucker in sein Glas und saugtees ganz ungräflich aus. Adamsberg hatte flüchtig den Eindruck, allseits von Zuckerstückchen umzingelt zu sein.
»Mit Léo habe ich immer diesen Calva getrunken. Sie müssen wissen, dass ich diese Frau leidenschaftlich geliebt habe. Ich habe sie geheiratet, aber meine Familie, in der es einen ganzen Haufen Toidis gibt, glauben Sie mir, hat mir das Rückgrat gebrochen. Ich war jung, willensschwach, ich habe nachgegeben, wir wurden zwei Jahre später geschieden.«
»Es wird Ihnen seltsam vorkommen«, fuhr er fort, »aber gleichwohl – wenn Léo den Anschlag dieses infamen Mörders überlebt, werde ich sie noch einmal heiraten. So habe ich es beschlossen, wenn sie annimmt. Und hier sind nun Sie gefragt, Kommissar.«
»Sie wollen sie unter Ihrer Fuchtel haben.«
»Nein, ich will Léo wieder zu einem würdigen Leben verhelfen. Glauben Sie nicht, dass dies der kauzige Einfall eines alten Mannes ist. Ich denke schon über ein Jahr darüber nach. Ich hatte gehofft, ich könnte meinen Stiefsohn dazu bringen, es zu verstehen, aber es ist hoffnungslos. Also werde ich es ohne seine Zustimmung tun.«
Der Graf erhob sich mühsam, ging, auf seinen Stock gestützt, zu dem riesigen steinernen Kamin und warf zwei große Holzscheite hinein. Er hatte noch Kraft, der alte Herr, genügend zumindest, um diese ungewöhnliche Hochzeit zwischen den beiden fast Neunzigjährigen zu beschließen, mehr als sechzig Jahre nach ihrer ersten Verbindung.
»Schockiert Sie eine solche Heirat?«, fragte er, zu ihnen zurückkehrend.
»Im Gegenteil«, erwiderte Adamsberg. »Ich werde sogar gern kommen, wenn Sie mich einladen.«
»Das werde ich, Kommissar, wenn Sie sie da rausholen. Und Sie werden es schaffen. Léo hat mich eine Stunde vor ihrer Ermordung angerufen. Sie war entzückt von ihrem Abend mit Ihnen, ihre Meinung genügt mir. Das Ganze hat etwas Schicksalhaftes, wenn Sie mir diese etwas simple Einschätzungverzeihen. Wir sind alle ein wenig schicksalsgläubig, hier am Weg von Bonneval. Sie waren es, Sie allein, der sie aus ihrer Aphasie herausgeholt und sie wieder zum Reden gebracht hat.«
»Drei ganze Wörter.«
»Ich kenne sie. Wie lange haben Sie an ihrem Bett gesessen?«
»An die zwei Stunden, glaube ich.«
»Zwei Stunden, in denen Sie mit ihr gesprochen, ihr das Haar gekämmt, Ihre Hand auf ihre Wange gelegt haben. Ich weiß. Worum ich Sie bitte, ist, dass Sie zehn Stunden am Tag bei ihr sitzen, fünfzehn, wenn nötig. Bis Sie sie da rausgeholt haben. Das schaffen Sie, Kommissar Adamsberg.«
Der Graf unterbrach sich, und sein Blick wanderte langsam über die Wände der Bibliothek.
»Und wenn Sie es schaffen, schenke ich Ihnen das dort«, sagte er und wies mit seinem Stock nachlässig auf ein kleines Bild, das neben der Tür hing. »Es ist wie für Sie gemacht.«
Danglard sprang auf und betrachtete das Gemälde. Eine grazile Reitergestalt vor einer Gebirgslandschaft.
»Gehen Sie nur näher heran, Commandant Danglard«, sagte Valleray. »Erkennen Sie den Ort, Adamsberg?«
»Der Gipfel der Gourgs Blancs, würde ich meinen.«
»Genau. Ganz in Ihrer Nähe, wenn ich mich nicht irre?«
»Sie sind gut informiert.«
»Selbstverständlich. Wenn ich etwas in Erfahrung bringen muss, kriege
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