Die Nacht des Zorns - Roman
encephalica, also Pleura und Hirnhaut, blockiert. Gehirn mit Sauerstoff unterversorgt, respiratorischer Mechanismus dekomprimiert, Verdauungssystem abgeschaltet. Wie alt ist sie?«
Adamsberg hörte, wie der Graf schneller atmete.
»Achtundachtzig.«
»Gut. Ich werde eine erste Behandlung von circa fünfundvierzig Minuten an ihr vornehmen. Dann eine zweite, kürzere, gegen 17 Uhr. Ist das möglich, René?«, und er wandte sich zu dem Chefbewacher um.
Der ex-impotente Bewacher nickte sofort, rückhaltlose Verehrung im Blick.
»Wenn sie auf die Behandlung anspricht, muss ich in vierzehn Tagen wiederkommen, um sie zu stabilisieren.«
»Kein Problem«, versicherte der Graf mit erregter Stimme.
»Wenn Sie jetzt bitte alle hinausgehen wollen, ich möchte mit der Patientin allein sein, Dr. Merlan kann bleiben, wenn er es wünscht, vorausgesetzt, er verkneift sich seine Ironie, wenn sie denn auch stumm ist. Oder ich sehe mich gezwungen, auch ihn hinauszubitten.«
Die vier Bewacher konsultierten sich, begegneten dem gebieterischen Blick des Grafen, dem zweifelnden Ausdruck von Émeri, aber schließlich gab Chefbewacher René seine Zustimmung.
»Wir stehen vor der Tür, Doktor.«
»Selbstverständlich, René. Außerdem gibt es hier, wenn ich richtig sehe, zwei Überwachungskameras im Zimmer.«
»So ist es«, sagte Émeri. »Zum Schutz der Patientin.«
»Ich werde also nicht davonfliegen. Das habe ich übrigens auch nicht vor, der Fall fasziniert mich. Alles ist funktionsfähig, und nichts funktioniert. Was ganz zweifellos durch ein Entsetzen ausgelöst wurde, das in einem unbewussten Überlebensreflex die genannten Funktionen hat erstarren lassen. Sie will ihren Überfall nicht noch einmal erleben müssen, sie will nicht ins Leben zurück, um mit ihm konfrontiert zu werden. Schließen Sie daraus, Kommissar, dass sie ihren Aggressor kennt und dass dieses Wissen ihr unerträglich ist. Sie ist auf der Flucht, sehr weit weg, viel zu weit.«
Zwei von den Bewachern postierten sich vor der Tür, diebeiden anderen gingen die Treppe hinunter, um unterm Fenster Posten zu beziehen. Der Graf, der auf seinem Stock den Korridor entlanghumpelte, zog Adamsberg mit sich.
»Er wird sie ausschließlich mit seinen Fingern behandeln?«
»Ja, Valleray, ich sagte es.«
»Mein Gott.«
Der Graf sah auf seine Uhr.
»Es sind erst sieben Minuten vergangen, Valleray.«
»Aber könnten Sie nicht mal reingehen und nachsehen, wie das abläuft?«
»Wenn Dr. Hellebaud einen schwierigen Fall zu behandeln hat, versenkt er sich so stark in ihn, dass er meist schweißgebadet daraus hervorgeht. Man kann ihn dabei nicht stören.«
»Ich verstehe. Sie fragen mich nicht, ob ich in puncto Schwert etwas erreicht habe?«
»Welchem Schwert?«
»Dem des Ministeriums, das Sie im Nacken spüren.«
»Sagen Sie.«
»Es war nicht leicht, die beiden Söhne von Antoine zu überzeugen. Aber ich hab es geschafft. Sie haben acht weitere Tage, um diesen Mohamed zu fassen.«
»Danke, Valleray.«
»Gleichwohl kam mir der Kabinettschef des Ministers etwas seltsam vor. Als er sein Einverständnis gab, fügte er hinzu: ›Falls wir ihn nicht bereits heute finden.‹ Er sprach von diesem Mohamed. Ein bisschen so, als amüsierte er sich. Haben die eine Spur?«
Adamsberg spürte die Elektrizitätskugel heftiger im Nacken kribbeln, fast tat sie ihm weh. Keine Kugel, hatte der Arzt erklärt, so etwas gibt es nicht.
»Davon weiß ich nichts.«
»Führen die eine parallele Ermittlung hinter Ihrem Rücken, oder was?«
»Keine Ahnung, Valleray.«
Zu diesem Zeitpunkt musste die Geheimpolizei des Ministeriums schon sämtliche Orte durchsucht haben, an denen er seit seiner Ankunft in Ordebec gewesen war. Léos Herberge, das Haus der Vendermots – Adamsberg hoffte aus tiefster Seele, dass Hippolyte die ganze Zeit rückwärts gesprochen hatte – und die Gendarmerie – Adamsberg hoffte aus tiefster Seele, dass Flem ihnen an den Hals gesprungen war. Es war kaum anzunehmen, dass sie auch das Haus von Herbier durchsucht hatten, aber ein verlassener Ort kann für Polizeischnüffler immer interessant sein. In Gedanken ging er noch einmal durch, was er mit Veyrenc dort getan hatte. Die Fingerabdrücke beseitigt, das Geschirr mit kochend heißem Wasser gespült, das Bettzeug abgezogen – mit der Weisung an die beiden jungen Leute, es frühestens hundert Kilometer hinter Ordebec zu entsorgen –, die Siegel wieder angebracht. Blieben die Kothäufchen von Hellebaud, die sie, so
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