Die Nacht des Zorns - Roman
Erwartung, dass die Klinke zucken würde, so, wie man darauf lauert, dass der Vorhang sich über einem außergewöhnlichen Schauspiel hebt. Alle standen so reglos da wie die Kühe in den Wiesen.
»Der Motor ist wieder angesprungen, er schnurrt«, verkündete der Doktor schlicht, als er herauskam. Er zog ein großes weißes Taschentuch aus seiner Tasche, trocknete sich mit Methode die Stirn, aber behielt die Tür noch in der Hand.
»Sie können hineingehen«, sagte er zum Grafen, »aber sagen Sie kein Wort. Versuchen Sie nicht, sie zum Reden zu bringen, jetzt noch nicht. Frühestens in vierzehn Tagen. Diese Zeit wird sie mindestens brauchen, um ihre Situation zu akzeptieren, vorher darf man auf gar keinen Fall in siedringen, sonst taucht sie wieder ab in den Limbus. Wenn Sie alle mir das versprechen können, dürfen Sie sie jetzt sehen.«
Die Köpfe neigten sich zustimmend.
»Aber wer bürgt mir mit seinem Wort dafür, dass die Anordnung befolgt wird?«, beharrte Dr. Hellebaud.
»Ich«, sagte Merlan, den niemand bemerkt hatte und der ein wenig gebeugt vor Fassungslosigkeit hinter Hellebaud stand.
»Ich nehme Sie beim Wort, lieber Kollege. Sie werden mir jeden Besucher begleiten oder ihn von jemandem begleiten lassen. Oder ich mache Sie verantwortlich für einen Rückfall.«
»Sie können mir vertrauen. Ich bin Arzt, ich lasse Ihre Arbeit von niemandem kaputtmachen.«
Hellebaud nickte und ließ den Grafen ans Bett treten, Danglard stützte seinen zitternden Arm. Er blieb einen Moment reglos und mit offenem Mund vor einer Léo stehen, deren Wangen sich leicht gerötet hatten, die ruhig atmete und ihn lächelnd und mit einem lebhaften Blick begrüßte. Der Graf legte seine Finger auf die Hände der alten Frau, die wieder warm durchpulst waren. Er drehte sich nach dem Arzt um, ratlos, wie er ihm danken sollte, da schwankte er plötzlich an Danglards Arm.
»Vorsicht«, sagte Hellebaud mit erschrockener Miene. »Schock, Anbahnung einer vasovagalen Synkope. Setzen Sie ihn hin, ziehen Sie ihm das Hemd aus. Sind die Füße blau?«
Valleray sackte auf den Stuhl, und Danglard hatte alle Mühe, ihn auszuziehen. Der Graf wehrte sich in seiner Verwirrung, so gut er konnte, als weigerte er sich mit aller Macht, nackt und gedemütigt in einem Krankenhauszimmer zu stehen.
»Er hasst das«, bemerkte Dr. Merlan lakonisch. »Bei sich zu Hause hat er einmal dasselbe Theater veranstaltet. Zum Glück war ich dabei.«
»Hat er öfter solche Schwächeanfälle?«, fragte Adamsberg.
»Überhaupt nicht, der letzte liegt ein Jahr zurück. Zu großer Stress, nichts Ernstes im Grunde. Mehr Angst als wirkliche Gefahr. Warum fragen Sie mich das, Kommissar?«
»Wegen Léo.«
»Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Der ist robust, Léo wird ihn noch viele Jahre haben.«
29
Capitaine Émeri trat mit aufgelöster Miene ins Zimmer und fasste Adamsbergs Arm.
»Mortembot hat soeben seinen Cousin Glayeux ermordet aufgefunden.«
»Wann?«
»Vermutlich letzte Nacht. Die Gerichtsmedizinerin ist auf dem Weg. Und das Schlimmste kommt noch, man hat ihm den Schädel gespalten. Mit einer Axt. Der Mörder greift auf seine erste Methode zurück.«
»Du sprichst vom alten Vendermot?«
»Ja sicher, er ist der Anfang von allem. Wer die Grausamkeit sät, wird die Bestialität ernten.«
»Du warst noch gar nicht hier, als der Mann umgebracht wurde.«
»Trotzdem. Frag dich lieber, warum man seinerzeit niemanden verhaftet hat. Warum man vielleicht niemanden hat verhaften wollen.«
»Wer ist ›man‹?«
»Wer hier das Gesetz macht, Adamsberg«, sagte Émeri etwas gewunden, während Danglard den halbentkleideten Valleray hinausführte, »das wahre Gesetz, das einzig gültige Gesetz, das ist der Graf von Valleray d’Ordebec. Er gebietet über Leben und Tod auf seinem Grund und Boden, und weit darüber hinaus, wenn du wüsstest.«
Adamsberg zögerte, er erinnerte sich an die Weisungen, die er am Abend zuvor auf dem Schloss erhalten hatte.
»Denk doch mal nach«, fügte Émeri hinzu. »Er braucht deinen Gefangenen, um Léo behandeln zu lassen? Schonkriegt er ihn. Du brauchst einen zeitlichen Aufschub für deine Ermittlung? Er setzt ihn durch.«
»Woher weißt du, dass ich einen Aufschub erhalten habe?«
»Er selbst hat es mir gesagt. Er zeigt gern, wie weit seine Macht reicht.«
»Wen hätte er schützen wollen?«
»Man hat immer vermutet, dass eines der Kinder den Vater getötet hat. Vergiss nicht, dass man Lina dabei angetroffen hat, wie sie
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