Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
der stolze und zärtliche Unterton von Miss Winters’ Worten entlockt mir ein breites Lächeln.
»Hast du Amy und Paul erzählt, dass es Sonny war?«
Ich zucke seufzend mit den Schultern. »Sie sagen, ich könnte mich auch geirrt haben, weil ich ihn nur von hinten auf dem Fahrrad gesehen habe. Aber ich bin todsicher, dass er es war. Er hasst mich noch mehr, als ich ihn hasse.«
Miss Winters lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Ob sie wohl weiß, dass sie dabei immer etwas ruckelt? »Wie kommst du darauf, dass Sonny dich blöd findet?«
»Er hasst mich«, verbessere ich sie. »Und zwar so richtig. Warum sollte er so etwas sonst tun?«
Miss Winters zuckt mit den Schultern. »Jungen in diesem Alter verhalten sich oft sonderbar. Sie können ohne jeden ersichtlichen Grund gemein sein. Sind eure Nachbarn auch davon betroffen?«
»Nein.«
Miss Winter’s Mund wird zu einem schmalen Strich, und ich ahne, dass sie hinter der Sache mit den Eiern und dem Laub etwas Persönliches vermutet.
»Warum, glaubst du, verabscheut dich Sonny so sehr«, fragt Miss Winters.
»Er ist gemein zu uns allen – auch zu Lynne und Phee –, aber vor allem zu mir. Das bilde ich mir nicht nur ein. Lynne und Phee sind meiner Meinung. Lynne meint, einer ihrer Brüder habe sich gegenüber einem Mädchen, das er mochte, ganz ähnlich verhalten, aber wir halten es für vollkommen ausgeschlossen, dass Sonny Rawlins mich mag.« Ich ziehe ein Gesicht. »Da ist es besser, wenn er mich hasst. Er ist einfach grässlich. Ätzend. Wäre schrecklich, wenn er mich mögen würde.« Den Abscheu, der mich erbeben lässt, muss ich gar nicht erst vorschützen.
Miss Winters lächelt. Fein, aber wissend. Ob sie eine möglichst normale Reaktion auf die Gemeinheiten von Sonny Rawlins an den Tag legen will? Eine spöttische Amüsiertheit über seine Dummheit? Wenn ja, so hilft mir das auch nicht. Ich würde ihm weiter am liebsten die Kehle durchschneiden.
Er hat mich von Anfang an angeglotzt, schon an meinem ersten Tag an dieser Schule. Sein Blick – teils fragend, teils anerkennend, fast etwas gierig – folgte mir durch die Flure, prickelte im Klassenraum zwischen meinen Schultern, wich selbst dann nicht, wenn ich ihn erwiderte. Während dieser ersten Wochen wechselten wir kein Wort, und so ging es bis nach den Weihnachtsferien. Am Valentinstag stand er dann plötzlich mit einem Blumenstrauß hinter der Tür meines Spinds. Ich nahm ihn automatisch entgegen. Blöderweise.
»Weißt du, wie die Blumen heißen?«, fragte er grinsend.
Ich senkte den Blick darauf, und plötzlich fiel mir das einzige Gute ein, was ich über Sonny Rawlins wusste: Seine Mutter war Gartenarchitektin. Mir ging der Gedanke durch den Kopf, dass er von jemandem, der Blumen liebte, großgezogen worden war und dass ich seine Blicke vielleicht falsch gedeutet hatte.
Seine selbstzufriedenen Worte hallten in meinen Ohren nach: Weißt du, wie die Blumen heißen?
»Ja«, sagte ich zu den Blumen. »Ja, ich weiß, wie sie heißen.«
Ich sah lächelnd auf. Und dann schmiss ich die Blumen in sein erwartungsvolles, blasiertes Gesicht. »Da hast du deine Tollkirschen zurück. Tausend Dank.«
»Warte! Nein …«
Aber ich übertönte ihn, sprach so laut, dass ich im ganzen Flur zu hören war. »Du musst dich etwas mehr anstrengen«, sagte ich höhnisch, »wenn du willst, dass ich auch nur halb so blöd aussehe wie du selbst. Glaubst du ernsthaft, ich wäre scharf auf Blumen von dir ?«
Sonny Rawlins errötete vor Wut und Scham, und ich merkte zu meiner Überraschung, dass er verletzt dreinschaute. Er hatte Tränen in den Augen, und mir wurde bewusst, dass er dies seit Wochen, vielleicht seit Monaten geplant hatte: ein perfekter Streich, um die kluge Neue vorzuführen. Erster Schritt: Schenk ihr Blumen zum Valentinstag. Zweiter Schritt: Genieße ihre beschämte Freude.
Danach der dritte Schritt: Brüll durch die ganze Schule, dass die Blumen genauso giftig sind wie die Neue, mach sie vor allen lächerlich. Er hatte bestimmt von diesem Moment geträumt, den kommenden Triumph in Gedanken immer wieder ausgekostet …
Aber dann schlug ich ihn in seinem eigenen Spiel, in dem einzigen Bereich, in dem er sich besser auszukennen glaubte als ich.
Die halbe Schule war Zeuge: Sonny Rawlins, der Tränen der Wut zu unterdrücken versuchte, nachdem er von der klugen, stillen Neuen ausmanövriert worden war. Ich sah lächelnd zu, wie sein Plan verpuffte, wie seine Vorfreude zu Scham wurde. Und ich
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