Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
besonders«, sage ich, sobald Jenny weg ist, denn ich möchte Mrs Poole, der die schlechte Note für meine Stiftrolle offenbar unangenehm ist, kein schlechtes Gefühl geben. »Haben Sie vielleicht etwas zu essen für sie?«
»Tja, eigentlich darf man im Unterricht nichts essen, Liebes, aber Lynne war tatsächlich sehr bleich. Wie wäre es mit einem Riegel Schokolade? Tut immer gut, wenn der Blutzuckerspiegel zu niedrig ist.«
Während Mrs Poole einen Riegel Schokolade abbricht, krame ich in meiner Tasche.
»Bitte sehr. Freut mich, dass du so gut für deine Freundinnen sorgst.«
»Hier«, sage ich und halte ihr im Gegenzug die stumpfe, dicke Nadel hin. »Es macht Ihnen doch nichts aus, dass ich sie geborgt habe? Ich brauche sie nicht mehr.«
»Nein, das war vollkommen in Ordnung, Evie. Ich finde es schön, dass du … dass du … so entschlossen bist, etwas zu beenden, das du begonnen hast. Sehr lobenswert. Und auch sehr lobenswert, dass du die Nadel heil zurückgibst.«
»Entschlossenheit ist jetzt erforderlich«, erwidere ich lächelnd.
»Oh«, sagt Mrs Poole blinzelnd. »Nun … das mag zutreffen, Liebes. Ja, ich denke, das ist richtig. Nach allem, was du in letzter Zeit erleiden musstest, kannst du das gewiss mit Fug und Recht sagen.«
»Diesen Spruch hatte ich neulich in einem Glückskeks«, erkläre ich.
»Das passt ja wie die Faust aufs Auge! Und da habe ich doch gleich eine schöne Idee«, sagt Mrs Poole und starrt die Wand an. »Ja, eine schöne Idee. Wir könnten Glückskekse backen und Sprüche hineintun …«
»Auf Wiedersehen«, sage ich.
»Oh. Ja. Bis bald, Liebes.«
Miss Winters nickt mir zu, als ich in den Klassenraum schleiche und auf den Stuhl gleite, den Lynne und Phee in ihrer Mitte für mich frei gehalten haben. Sonny Rawlins sitzt auf der anderen Seite des Raumes und glotzt die Tafel an. Er dreht sich nicht einmal nach mir um. Fred kichert leise mit Jenny, und so unterstellt mir niemand, ich wäre mit Absicht zu spät gekommen, um allen zu zeigen, wie besonders ich bin. Ja, ich höre kein einziges böses Wort.
Ich hole die Schokolade aus der Tasche und drücke sie Lynne unter dem Tisch in die Hand. »Iss das«, flüstere ich ihr aus einem Mundwinkel zu. »Du bist so mürrisch drauf, und du hast dir ja schon ein paar Kalorien abgelaufen.«
Lynne stopft sich die Schokolade in den Mund. »Vielleicht stand nur Mist in dem Artikel. Neulich war noch einer auf der Seite, in dem behauptet wurde, Computer würden Krebs verursachen. Wahrscheinlich auch nur Mist.«
Phee und ich tauschen ein Grinsen und klatschen unter dem Tisch die Hände ab.
Amy und ich backen Shortbread in der Küche und nippen dabei an Bechern randvoll mit heißer Schokolade und jeder Menge Schlagsahne, als an der Haustür geklingelt wird.
Phee steht draußen, bleich, verweint und zitternd.
Wir starren einander kurz an.
»Meine Mutter hat Krebs«, sagt sie.
Ich bin sehr sparsam mit Umarmungen, obwohl es mir inzwischen nicht mehr so viel ausmacht, umarmt zu werden. Aber jetzt gehe ich auf Phee zu und nehme sie in die Arme. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und schluchzt feuchte, heiße Luft durch die Maschen meines Pullovers.
»Evie, meine Liebes? Wer ist …?«
Ich drehe mich um und sehe, wie Amy, die ihre Hände mit einem Geschirrhandtuch abtrocknet, in den Flur tritt. »Ich koche noch mehr heiße Schokolade«, sagt sie und lässt uns allein.
Schließlich nimmt Phee den Kopf von meiner Schulter. Ihr Gesicht ist gerötet und verschwitzt. Sie streicht sich die feuchten Haare aus der Stirn, wischt sich die Nase mit dem Handrücken ab. Ich lasse sie kurz vor der Treppe stehen, um meine heiße Schokolade und ihren Becher zu holen, und bugsiere sie danach in mein Zimmer. Ich schiebe die Kleider vom Schaukelstuhl vor dem Fenster, setze sie darauf und lasse mich dann auf der Bettkante nieder.
Phee starrt ihren Becher an. »Ich … ich habe ein paar Fragen zu deiner Mutter, Evie. Ich weiß, dass du nicht gern über sie sprichst, aber ich muss dir dringend ein paar Fragen stellen.«
»Klar«, sage ich.
Phee hebt den Kopf und schaut mir in die Augen. »Gestern hat mein Vater mich nicht von der Schule abgeholt«, sagt sie schließlich. »Er hatte es einfach vergessen. Und ich kann das verstehen. Sie wissen es offenbar schon seit einer Woche, wollten aber weitere Informationen einholen, bevor sie es mir erzählen. Und Mum meint, der Arzt sei sehr optimistisch. Sie hat mir erzählt, was jetzt kommt und wie
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