Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Dunkelheit war hereingebrochen, und die Haut ihrer nackten Schultern und ihres Halses wirkten erschreckend blass im Halbdunkel des Raums. Gefangen in dieser geisterhaften Traumwelt, war der Gedanke an Seth eine lebensrettende Verbindung zur Wirklichkeit.
Kühle Luft strich ihr über die Schultern. Sie spürte, wie die Tür zur Bibliothek geöffnet wurde, obwohl kein Laut zu hören war. Sie wusste genau, wer gerade hereingekommen war.
Sie stand in der Mitte der blutroten Muster des Teppichs und wartete ruhig, während sie das Bild ihrer Großmutter betrachtete. Victor kam näher. Er legte ihr einen Moment lang eine Hand auf die Schulter, dann nahm er sie wieder weg.
Er deutete auf das Porträt. »Du bist ihr sehr ähnlich, weißt du.«
Sie stieß einen tiefen, lautlosen Seufzer aus. Er wusste, wer sie war; er hatte es immer gewusst. Diese Erkenntnis war so langsam in ihr Bewusstsein gestiegen, dass sie nicht mehr genug Kraft besaß, um Raine zu erschrecken.
Die Welt um sie herum verschwamm und kam wieder zur Ruhe wie ein wehendes Tuch, das langsam zu Boden sank. Sie wandte sich ihm zu. »Bin ich das? Die Leute sagen mir immer, ich sehe genau aus wie meine Mutter.«
Victor überging ihre Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Oberflächlich«, erwiderte er. »Dein Teint ist wie der von Alix, aber dein Körperbau ist viel graziler. Deine Lippen sind voller. Und deine Augen und Augenbrauen sind typisch Lazar. Sieh sie dir an.«
Zusammen musterten sie für einige Augenblicke das Porträt.
»Du hast viel mehr von ihr als nur den Namen«, stellte Victor fest. »Darf ich dich Katya nennen? Es würde mir eine große Freude machen.«
Ihr automatisches Bedürfnis, sich anzupassen und liebenswürdig zu sein, kollidierte mit der neuen starken Frau, die dort auf dem roten Teppich stand. Die neue Frau gewann den Kampf mit überraschender Leichtigkeit.
»Ich würde es vorziehen, Raine genannt zu werden«, sagte sie. »Mein Leben ist chaotisch. Ich möchte so viel Normalität darin behalten, wie es irgend möglich ist. Sonst verliere ich mich irgendwann.«
Unmut flackerte in seinen Augen auf. »Das enttäuscht mich. Ich hatte gehofft, der Name deiner Großmutter würde weitergetragen werden.«
Doch Raine gab nicht nach. »Man bekommt nicht immer alles, was man sich wünscht.«
Victors Mundwinkel zuckten. »Das, meine Liebe, ist wohl wahr.« Er bot ihr seinen Arm. »Komm. Es dauert nicht mehr lange, bis unsere Gäste eintreffen.«
»Gäste?« Sie hob das Kinn und überging seine Geste.
In seinem Lächeln lag Wärme und Anerkennung. »Ich setze offenbar zu viel voraus, ja? Da wir deinen Status als meine geliebte, lang vermisste Nichte noch nicht formell bekannt gegeben haben, konnte ich meine Pläne nicht vorher mit dir besprechen. Aber du empfindest es doch sicher als eine Erleichterung, endlich die sein zu können, die du bist.«
»Ja«, sagte sie und meinte es auch aus vollem Herzen. »Und deine Gäste?«
»Ah. Meine Gäste. Es ist nur eine kleine Zusammenkunft von Freunden und Geschäftspartnern zum Abendessen. Eigentlich hatte ich vor, ein einfaches Treffen meines Sammlerclubs zu veranstalten, nur ein kleines Dinner und ein paar Drinks, weil ich ihnen ein seltenes Stück zeigen wollte, das ich neulich erworben habe. Du musst wissen, ich sammle Kunst und Antiquitäten. Aber als du eingetroffen warst, gefiel mir die Vorstellung, eine Party zu veranstalten, plötzlich viel besser.«
»Ich verstehe«, murmelte sie immer noch verblüfft. »Aber warum das alles? Das Kleid, die Frisur? Warum willst du mich bei deinem Abendessen dabeihaben?«
»Ist das nicht offensichtlich?«
»Ich fürchte, nicht.«
Victor lächelte und strich ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange – nur eine leichte, flüchtige Berührung. »Eitelkeit nehme ich an. Ich bin ein kinderloser Mann. Ich kann der Gelegenheit nicht widerstehen, meinen Freunden und Geschäftspartnern eine schöne, kultivierte, faszinierende junge Frau als meine Nichte vorzustellen. Sieh es als dein Debüt.«
Sie starrte ihn an.
»Ich weiß, es ist albern«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Aber ich werde älter. Man muss die Gelegenheiten ergreifen, solange man es noch kann.«
Sie versuchte den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrer Kehle bildete. »Wie lange weißt du schon von mir?«
Sie spürte einen Stich im Herzen, als ihr auffiel, wie sehr sein Lächeln dem ihres Vaters glich. Die hohen Wangenknochen, die tiefen Lachfalten, sein gut
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