Die Nacht Hat Viele Augen -1-
geschnittenes Kinn. »Seit dem Moment, an dem deine Mutter dich von hier fortgebracht hat, habe ich immer gewusst, wo du bist. Ich habe dich nie länger als einen Tag aus den Augen verloren.«
Ihr stockte der Atem. »Unsere ganze Flucht«, flüsterte sie. »All die falschen Identitäten. Alles umsonst.«
»Alix hat schon immer eine Neigung gehabt, die Dinge zu dramatisieren. Ich habe mich dafür verantwortlich gefühlt, auf dich aufzupassen, weil ich nicht darauf vertraut habe, dass Alix es tut. Sie ist sehr … mit sich selbst beschäftigt, könnte man vielleicht freundlich formulieren.«
Victors Geringschätzung ihrer Mutter, die er so beiläufig ausdrückte, ließ Raine zusammenzucken.
Er fuhr fort: »Ich habe im Computersystem von Lazar Import und Export eine Alarmfunktion für den Fall aktiviert, dass mich irgendjemand, der einen von euren Decknamen benutzte, zu kontaktieren versucht. Stell dir meine Freude vor, als ich mich eines Morgens einloggte und darüber informiert wurde, dass Raine Cameron eine Bewerbung an meine Personalabteilung geschickt hatte. Es war sehr faszinierend.«
»Ich nehme an, du hast dich gewundert, warum ich mich nicht direkt mit dir in Verbindung gesetzt habe«, erwiderte sie vorsichtig.
»Die Lazars neigen dazu, raffiniert und listig zu sein«, erklärte er mit einem gewinnenden Lächeln. »Es ist ein Charakterzug der Familie. Natürlich war mir klar, dass du mehr über die Ereignisse in jenem schrecklichen Sommer erfahren möchtest, in dem Peter gestorben ist.«
Ihr Magen zog sich zusammen. Victors lächelndes Gesicht verriet absolut nichts. »Du bist nicht wütend?«
Er schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Es zeigt, dass du meinem Bruder Tribut zollst. Er ist dir wichtig genug, um nach der Wahrheit zu suchen. Ich bin stolz darauf, dass meine eigene Nichte so mutig und abenteuerlustig ist, das zu tun.«
Ihr Mund war so trocken, dass er wie versiegelt schien. Sie starrte auf sein Lächeln und versuchte, mit all ihren Sinnen die Falle zu entdecken, die sich hinter seinen freundlichen, anerkennenden Worten verbergen musste.
Er trat einen Schritt auf sie zu. »Ich bin dankbar, dass ich endlich die Chance bekomme, dir das zu sagen. Von Angesicht zu Angesicht, meine Liebe. Ich war nicht im Land, als Peter ertrunken ist. Sein Tod hat mich in tiefe Verzweiflung gestürzt. Er war damals sehr niedergeschlagen. Er hätte nicht allein hinaussegeln sollen. Was ich am meisten bedaure, ist die Spannung, die zwischen ihm und mir geherrscht hat. Die meiste Schuld daran trug deine Mutter. Alix hat gern Öl ins Feuer gegossen. Und egal, was die Leute sagen, ich habe meinen Bruder geliebt.«
Die Worte hingen zwischen ihnen im Raum.
Raines Kehle begann zu beben. Vorsichtig wischte sie sich mit den Fingerspitzen die Tränen fort, gefangen in einem inneren Kampf darum, die Hinweise in ihrem Traum nicht aus den Augen zu verlieren und Bill Haleys Worte nicht zu vergessen. Ihre Welt, nicht seine , wiederholte sie im Geist, wie einen Bann gegen den Sog seines Charismas.
Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Du bist nicht überzeugt.«
Sie antwortete nicht, und er begann zu lachen. »Aufrichtigkeit ist heutzutage in meinem Leben so selten geworden. Sie wirkt wie ein Eimer kaltes Wasser. Erfrischend. Nun, meine Liebe, ob du mir nun glaubst oder nicht, könntest du deine Zweifel lange genug beiseiteschieben, um einen angenehmen Abend mit mir und meinen Freunden zu verbringen?«
»Wenn du mich bitte entschuldigst, ich muss zuerst ein Telefonat führen.«
Er deutete auf den Apparat auf dem Tisch. »Jederzeit.«
Sie hielt kurz inne. Es war kein Gespräch, das er mithören sollte.
Er lächelte über ihr Zögern. »Du möchtest deinen jungen Liebhaber anrufen, nehme ich an? Um ihm zu versichern, dass du nicht in einer wollüstigen Orgie gelandet bist? Das habe ich natürlich vorausgesehen, meine Liebe. Deswegen habe ich Mr Mackey bereits zu unserer kleinen Party eingeladen.«
Seine Augen funkelten, als er ihren verblüfften Gesichtsausdruck sah. »Er war ganz begeistert, als er hörte, dass du auch da sein würdest. Er ist der eifersüchtige Typ und sehr besitzergreifend, nicht wahr? Man stelle sich das vor. Du über Nacht unterwegs und irgendwelchen verdorbenen Genüssen unterworfen. Oh, schrecklich. Das würde so einen heißblütigen Jungen sicherlich in eifersüchtige Raserei versetzen. Deswegen hab ich ihm gesagt, er solle zum Abendessen kommen, um sich zu beruhigen. Ich hoffe, ich habe
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