Die Nacht Hat Viele Augen -1-
interessiert.«
»Danke, ja. Das wäre faszinierend«, murmelte sie.
»Dann lass mich dir noch das Haus zeigen, bevor unsere Gäste eintreffen. Ich möchte dich gern wieder mit dem Haus vertraut machen, wie du es aus deiner Kindheit kennst.«
Sie nahm seinen Arm. Gefangen oder nicht, Lügen oder keine, sie konnte nicht durch reine Willenskraft ihre Narben und Ängste und Bedürfnisse einfach verschwinden lassen. Sie konnte nur beobachten, wie sie, fließendem Wasser gleich, herumgewirbelt wurden und sich mit jedem Augenblick, der verging, veränderten.
»Ja, bitte«, sagte sie. »Das wäre sehr schön.«
16
Seth wäre niemals auf den Gedanken gekommen, eines Tages als der Tischherr von Victor Lazars lang verschollener Nichte an einer Dinnerparty auf Stone Island teilzunehmen. Er befand sich immer noch am Anlegesteg der Insel und zwang sich dazu, seine volle Konzentration darauf zu richten, den umgebauten Infrarot-Bewegungsmelder auf seinem Boot einzurichten. Sollte sich irgendjemand in seiner Abwesenheit näher als zwei Meter an sein Boot heranwagen, würde ein Empfänger an seinem Gürtel anfangen zu vibrieren und an Bord eine Videokamera anspringen, um alles aufzuzeichnen.
Bei dieser Arbeit kam es eigentlich darauf an, auf jedes noch so kleine Detail zu achten, doch Seth starrte einfach nur vor sich hin, vergaß, wo er war, und murmelte irgendwelche obszönen Flüche. Er wollte Raine zur Rede stellen, aber seine eigenen Geheimnisse hielten ihn gefangen. Bislang hatte ihn seine Verschwiegenheit noch nie eingeschränkt. Ganz im Gegenteil, sie hatte ihm eher ein Gefühl der Macht gegeben. Doch jetzt machte die Geheimniskrämerei ihn halb verrückt und hilflos.
Noch vor drei Tagen wäre er nackt über Glassplitter gekrochen, um die Gelegenheit zu bekommen, Stone Islands elektronische Dornenhecke ungehindert durchschreiten zu dürfen. Aber seine Gedanken drehten sich im Kreis, und er konnte sich nicht konzentrieren. Fieberhaft versuchte er, sich einen Plan für den Abend zurechtzulegen, aber es gelang ihm einfach nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Er würde improvisieren müssen. Was war aus ihm geworden? Victor war ein verdammtes Genie.
Das Haus strahlte wie ein Weihnachtsbaum. Es war ein seltsames Gefühl, einfach hineingehen zu können. Der Weg wurde von einer Kette aus schneeweißen Lichtern beleuchtet, die sich von Baum zu Baum schwang. Er fühlte sich schutzlos, trotz der SIG Sauer in dem Schulterholster, das er unter seinem Jackett trug.
In der Empfangshalle prasselte ein Feuer in dem mächtigen Kamin. Eine Jazz-Combo spielte, und die Klänge eines Saxofons wehten herüber. Es wimmelte von Menschen in Abendgarderobe. Draußen auf der Terrasse erkannte er einen Lokalpolitiker, der in ein angeregtes Gespräch mit einer hübschen jungen Frau in einer kurzen Pelzjacke vertieft war. Sie trank einen Schluck Champagner, warf den Kopf in den Nacken und lachte. Zu schade, dass Connor nicht da war. Mit seinem geradezu enzyklopädischen Wissen über die lokale Prominenz. Seth wusste nur, das Victor Einfluss auf viele dieser Menschen hatte, deren Gemeinsamkeiten lediglich in Reichtum, Macht und irgendeiner geheimen Schwäche bestanden, die Lazar auszunutzen wusste. Genauso wie er es bei Seth getan hatte. Ihn hatte er ebenso an der Angel wie jeden anderen dieser armen Champagner schlürfenden Bastarde.
»Ah! Da ist er ja. Unser unerschrockener Sicherheitsberater. Kommen Sie herein, kommen Sie herein.« Lazar trat auf Seth zu, ergriff dessen Hand und schüttelte sie herzlich. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten. Raine wird entzückt sein. Sie war schon ganz verzweifelt, als das letzte Boot ohne Sie eingetroffen ist.«
»Ich bin mit meinem eigenen gekommen.«
Victor hob die Augenbrauen. »Und das sollten Sie auch, wenn Ihnen eins zur Verfügung steht. Wo ist das Mädchen? Ah, da ist sie ja und plaudert mit Sergio. Meine Liebe! Dein Ehrengast ist da!«
Aber Seth hörte nicht länger, was Lazar sagte. Die Welt um ihn herum verschwamm, ihm stockte der Atem. Er sah nur noch Raine.
Sie war eine verdammte Göttin und auch so herausgeputzt. Wie ein Supermodel oder direkt aus Hollywood. Wie eine Eisprinzessin, unerreichbar schön. Selbst in ihren altmodischen Kostümen und mit ihrer Hornbrille war sie immer sexy und zum Anbeißen gewesen. Auch in ihrem weiten Fleece-Pyjama hatte er sie angebetet, und sobald sie nackt war und ihr das Haar bis hinunter zu ihrem Hintern fiel, blieb ihm einfach nur noch
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