Die Nacht Hat Viele Augen -1-
irgendwelchen Verstecken, eine endlose Folge von falschen Namen und falschen Pässen, die nackte Furcht in der Stimme ihrer Mutter, wenn ihr Onkel auch nur erwähnt wurde, eine bleibende Erinnerung an Panik und Angst, eng verbunden mit dem Gefühl tiefer Trauer. Und dann natürlich der Traum. Der Traum war erbarmungslos.
Und jetzt war sie also dort. In den drei Wochen, seit sie in der Firma arbeitete, hatte sie absolut nichts erfahren, außer einer schwindelerregenden Menge von Informationen über die Regeln des Office of Foreign Asset Control , über Finanzkalkulationsprogramme, Vorlagen für Containertransportverträge und Websitewerkzeuge. Sie war eine schreckliche Lügnerin und hatte niemals das geringste Talent besessen, andere zu täuschen, was sich gerade als Nachteil herausstellte. Sie musste sich, so gut sie konnte, durchkämpfen, während sie mit ihren Melonenstücken und Mini-Muffins herumbalancierte. Was für eine furchtlose, kühne Frau auf den Spuren der Wahrheit und Gerechtigkeit sie doch war.
Wieder spürte sie dieses Prickeln, das über ihre Haut lief, während sie die Frischhaltefolie von einer Schale mit Frischkäse für die Bagels abzog. Sie fuhr herum und ließ die Plastikschale fallen.
Der Mann, den sie im Fahrstuhl gesehen hatte, stand in der Küchentür.
Sie schluckte schwer. Sie musste Kaffee und Mini-Muffins servieren, ermahnte sie sich. Sie hatte keine Zeit, sich von einem gierigen Piraten schänden zu lassen, egal wie sexy und unwiderstehlich er auch sein mochte.
»Haben Sie sich verlaufen?«, fragte sie höflich. »Kann ich Sie irgendwohin bringen?«
Sie spürte den heißen Blick des Mannes überall auf ihrem Körper wie starke, besitzergreifende Hände. »Nein. Den Konferenzraum finde ich schon allein.« Seine tiefe Stimme strich sanft über ihre Nerven wie eine langsame, kribbelnde Berührung.
»Sie sind also … äh … wegen des Morgenmeetings hier«, stammelte sie.
»Ja.« Er betrat mit panthergleicher Grazie die Küche, bückte sich und nahm die Schale hoch. Dann richtete er sich auf – und immer weiter auf – und überragte ihre eins zweiundsechzig. Er nahm eine Serviette von dem Tresen hinter ihr, wischte einen Fussel vom Frischkäse ab und hielt ihn ihr hin. »Niemand wird es je erfahren«, versprach er sanft. »Das bleibt unser kleines Geheimnis.«
Sie nahm die Schale entgegen und wartete darauf, dass er einen Schritt zurücktrat. Doch das tat er nicht, bemerkte sie Sekunden später. Ganz im Gegenteil. Sie griff hinter sich, und irgendwie gelang es ihr, den Frischkäse dort ohne weitere Zwischenfälle auf dem Tablett zu platzieren. Ihr Herz hämmerte wild.
Sie konnte doch sonst auch lächeln, beschwor sie sich verzweifelt. Sie konnte auch flirten. Sie war schon ein großes Mädchen. Es war erlaubt. Aber er stand so dicht vor ihr, seine Augen waren so heiß und hungrig. Die Intensität seiner maskulinen Energie lähmte sie. Sie war sprachlos, konnte nicht einmal Luft holen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie im Fahrstuhl nervös gemacht habe.« Seine Stimme streichelte sie erneut so sanft wie Wildleder. »Sie haben mich überrascht, ich habe meine Manieren vergessen.«
Sie versuchte, sich am Küchentresen entlangzuschlängeln. »Sie sind immer noch nicht sehr höflich«, erklärte sie. »Und ich bin immer noch nervös.«
»Ach ja?« Er legte beide Hände auf den Tresen und fing sie in einem knisternden Kraftfeld männlicher Hitze ein. »Nun ja, und ich bin immer noch überrascht.«
Er beugte sich vor. Sie fragte sich in einem kurzen Anflug von Panik, ob er sie küssen würde, aber er hielt Millimeter vor ihrem Haar inne und holte tief Luft. »Sie duften wunderbar«, murmelte er.
Sie drückte sich gegen den Tresen. Im Rücken spürte sie die Gewürzschublade. »Ich benutze kein Parfum«, erwiderte sie tapfer.
Er roch noch einmal an ihr und seufzte, sein warmer, duftender Atem strich über ihren Hals. »Deswegen gefällt mir ihr Duft. Parfum überdeckt immer alles Gute. Ihr Haar, ihre Haut. Frisch und süß und heiß. Wie Blumen in der Sonne.«
Das konnte doch nicht tatsächlich passieren. Manchmal schien ihre Traumwelt wirklicher zu sein als die Realität, und dieser unaussprechlich kühne, gut aussehende Mann gehörte in eine ihrer eher unpassenden Traumszenarios, zusammen mit Einhörnern und Zentauren, Dämonen und Drachen. Unergründlichen Kreaturen, frei von Gesetzen und Grenzen der Sterblichen, umgeben von einem wilden Zauber. Und von tödlicher Gefahr.
Sie
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