Die Nacht Hat Viele Augen -1-
durchdringenden grauen Augen über sie hinweggeglitten, ohne sie zu beachten. Vor Erleichterung hatte sie weiche Knie bekommen. Offensichtlich sah er keine Verbindung zwischen der neuen Vorstandsassistentin und seiner kleinen, elf Jahre alten Nichte mit den weißblonden Zöpfen, die er seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gott sei Dank.
Sein plötzliches Interesse an ihr kam ihr jedoch unheimlich vor.
»Machen Sie schnell, Raine! Das Meeting war für 7:45 Uhr angesetzt!«
Harriets rasiermesserscharfer Ton riss sie aus ihren Gedanken. Mit klopfendem Herzen hastete sie in die Küche. Es war nichts Besonderes, versuchte sie sich einzureden, während sie das Essen auspackte. Sie servierte Kaffee, Croissants, Bagles, Mini-Muffins und Obst. Sie würde lächeln, hübsch aussehen und sich dann graziös zurückziehen, um Lazar und seine Klienten ihren Geschäften zu überlassen. Schließlich ging es nicht um eine mündliche Prüfung.
Natürlich nicht , meldete sich da die kleine sarkastische Stimme in ihrem Hinterkopf. Er ist nur der Mörder deines Vaters, höchstpersönlich und in deiner Reichweite. Also wirklich keine große Sache.
Sie goss sich eine Tasse von dem starken Kaffee ein, den es immer in der Personalküche gab, und trank ihn so schnell, dass sie sich Mund und Kehle verbrannte. Um das Ganze wirklich durchstehen zu können, würde sie sich ein Metallrückgrat einoperieren lassen müssen. Sie sollte froh sein, dass Victor sie bemerkt hatte. Sie musste nahe an ihn herankommen, wenn sie Nachforschungen zum Tod ihres Vaters anstellen wollte. Deswegen hatte sie diesen albtraumhaften Job überhaupt angenommen, deswegen lebte sie dieses surreale Leben. Der Traum von dem weinenden Grabstein hatte ihr keine andere Wahl gelassen.
Jahrelang hatte sie versucht, diesen teuflischen Traum zu enträtseln. Ein Dutzend logischer Erklärungen waren ihr eingefallen: Sie vermisste ihren Vater, trug verdrängten Groll über seinen Tod mit sich herum, brauchte einen Sündenbock et cetera. Sie hatte sich mit Traumpsychologie beschäftigt, eine Psychotherapie gemacht, kreative Visualisierung versucht, Hypnose, Yoga, jede Stress lösende Technik, die sie hatte auftreiben können, aber der Traum war geblieben. Er brannte in ihren Gedanken, drückte sie nieder und sabotierte jeden Versuch, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen.
Vor einem Jahr hatte sie ihn dann jede Nacht geträumt, sie war völlig daran verzweifelt. Sie hatte Angst gehabt, ins Bett zu gehen, obwohl sie hundemüde war. Sie hatte versucht, sich mit Schlaftabletten ins Koma zu versetzen, ertrug aber die Kopfschmerzen nicht, die am nächsten Tag folgten. Sie war mit ihrer Weisheit am Ende und merkte, dass ihr Leben vollkommen zum Stillstand gekommen war – bis zu ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag um drei Uhr morgens. Sie hatte plötzlich aufrecht im Bett gesessen, mit rasendem Herzen, und hatte mit verweinten, brennenden Augen in die Dunkelheit gestarrt, während sie immer noch die grausame Kraft von Victors Arm spürte, der sie um die Schultern gepackt hielt. Als das Licht der aufgehenden Sonne die Fenster ihres Schlafzimmers langsam in ein helles Grau getaucht hatte, war sie endlich bereit gewesen nachzugeben. Der Traum wollte sie dazu bringen, etwas zu tun, und sie würde sich nicht länger weigern. Denn wenn sie es tat, würde sie irgendwann daran zerbrechen.
Natürlich hatte sie keinerlei Beweise. Die Akte zu den Ereignissen war eindeutig und schlüssig. Ihr Vater war bei einem Segelbootunfall ums Leben gekommen. Victor war auf einer Geschäftsreise im Ausland gewesen, und Raines Mutter hatte behauptet, dass sie und Raine zu jener Zeit in Italien gewesen waren, und sich geweigert, weiter über die Sache zu sprechen. Als Raine sechzehn war, hatte sie ihre Mutter einmal gefragt, ob sie glaube, dass der Tod ihres ersten Mannes ein Unfall gewesen sei. Ihre Mutter hatte sie hart ins Gesicht geschlagen, war dann in einen lautstarken Weinkrampf ausgebrochen und hatte ihre erschrockene Tochter in die Arme gezogen und sie um Vergebung gebeten.
»Natürlich ist es ein Unfall gewesen, Honey. Natürlich war es das«, hatte sie mit gebrochener Stimme wiederholt. »Lass es gut sein. Vergangenheit bleibt Vergangenheit. Es tut mir so leid.«
Raine hatte das verbotene Thema niemals wieder angesprochen, aber dieses Schweigen über die Vergangenheit hatte ihr immer irgendwie den Atem genommen. Sie hatte so wenig in der Hand. Jahrelang auf der Flucht und immer in
Weitere Kostenlose Bücher