Die Nacht Hat Viele Augen -1-
haben den Kerl praktisch. Das ist wohl Schicksal.«
Der Parkwächter in der Tiefgarage des Lazar-Gebäudes sprang auf, als sie aus dem Wagen stieg. Sein alarmierter Gesichtsausdruck glich einer skurrilen Maske.
»Guten Morgen, Jeremy«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich habe heute weder meinen Mitarbeiterausweis noch meine Parkkarte dabei, aber ist auch egal. Ich verspreche, dass ich nicht lange bleiben werde.«
»Wie?« Jeremy blieb der Mund offen stehen. »Wer …?«
Die Fahrt im Lift war wie eine Reise durch ein anderes Universum. Die Leute um sie herum starrten sie an, als habe sie zwei Köpfe. Sie waren alle so herausgeputzt, und ihre Welt war sicher, überschaubar und verständlich. Am liebsten hätte sie diese Leute angeschrien, hätte sie gewarnt, dass sich ihr schlimmster Albtraum jederzeit materialisieren und sie anspringen konnte, mit gefletschten gelben Reißzähnen. Oh ja, das konnte tatsächlich passieren.
Mit purer Willenskraft hielt sie sich zurück. Es war nicht ihre Aufgabe, diese Leute zu warnen. Zum Glück stand ihr Haar heute so wild in alle Richtungen, dass es die Waffe verdeckte, die hart und unbequem hinten in ihrer Hose steckte. Das kurze T-Shirt bedeckte sicherlich nichts. Und ihr Hintern hing praktisch aus den tief sitzenden Jeans heraus.
»Entschuldigung«, sagte sie, als die Fahrstuhltüren aufglitten, und alle traten zurück, um sie zuerst hinauszulassen. Daran könnte sie sich gewöhnen, dachte sie und verkniff sich zu lachen. Vielleicht sollte sie immer so herumlaufen.
Das Gleiche geschah in den Büros von Lazar Import und Export . Die Leute, die sie den ganzen Monat über eingeschüchtert und durch die Gegend geschickt hatten, gingen ihr mit großen Augen eilig aus dem Weg oder pressten sich mit dem Rücken gegen die Wand, um ihr Platz zu machen. Als ob sie gefährlich wäre. Grimmige Freude stieg in ihr auf. Es war lange her, seit ihre Knie geschlottert hatten, weil sie in einem Raum voller Schlipsträger Melonenstücke und Mini-Muffins servieren musste.
Harriet stürzte sich wie ein Kampfjet auf sie, als sie den Flur hinunter zu Victors Büro ging. Sie stellte sich Raine in den Weg, und ihr schmaler, verkniffener Mund zitterte vor Wut.
»Wie können Sie es wagen, hierherzukommen und wie eine Nutte auszusehen? Sind Sie verrückt geworden? Sie haben Blut im Gesicht, und außerdem sind Sie … dreckig!« Ihre Stimme erstarb vor Entsetzen.
Raine unterdrückte ein hysterisches Lachen. »Aus dem Weg!«, befahl sie. »Ich muss sofort in dieses Büro.«
»Nein!« Harriet breitete die Arme aus und war offensichtlich bereit, den Märtyrertod zu sterben. »Keine auch noch so enge Beziehung zu Mr Lazar gibt Ihnen das Recht …«
»Er ist mein Vater, Harriet«, fuhr Raine sie an.
Harriet zuckte zurück, die Augen riesig und fassungslos hinter ihrem Brillengestell.
Raine ging auf sie zu. »Also bewegen Sie Ihren knochigen Arsch zur Seite. Ich hab heute einen wirklich miesen Tag, wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist, und ich habe weder die Zeit noch die Geduld, mich Ihnen gegenüber zu rechtfertigen. Gehen Sie mir aus dem Weg!«
Harriet schluckte und wich mit steifer Miene zurück. »Ruft den Sicherheitsdienst«, sagte sie zu Leuten, die hinter ihr standen und alles mit großen Augen und leise murmelnd beobachteten.
Den Sicherheitsdienst. Großartig. Sie würde also nicht viel Zeit haben. Raine schloss die Tür ab und ließ sich auf den thronähnlichen Schreibtischstuhl fallen. Der Computer war bereits hochgefahren, das Passwortfenster offen, und der Cursor blinkte eifrig.
Sie griff nach dem Telefon und tippte Seths Handynummer ein. Die automatische Stimme informierte sie darüber, dass der Teilnehmer im Moment nicht erreichbar sei, und erkundigte sich, ob sie eine Nachricht hinterlassen wolle. Sie knallte den Hörer auf die Gabel und rieb sich die brennenden Augen. Was hatte Victor noch gesagt? Mehr als vier Buchstaben. Weniger als zehn. Was er von ihr wolle.
Verdammt, immer ein Machtkampf, immer ein Rätsel. Was sie dafür geben würde, die Macht zu haben, dass die anderen sich mal den Kopf zerbrachen, um herauszufinden, was sie von ihnen wollen könnte. Sie musste auf allen vieren darum betteln zu bekommen, was sie wollte. Und sie bekam es trotzdem nie.
Ach, hör auf damit. Jetzt war nicht die Zeit für Selbstmitleid. Sie musste sich konzentrieren. Victor war ein Kontrollfreak. Er liebte es, die Leute zu beherrschen …
Sie tippte Furcht ein – es funktionierte
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