Die Nacht Hat Viele Augen -1-
fragte sie schließlich.
»Dann kam der Tag, an dem ich aus dem Haus trat und sah, wie er dich jagte. Ich wusste es irgendwie. Was geschehen sein musste. Was du gesehen haben musstest. Ich habe sein Gesicht gesehen. Er war völlig verrückt. Er hätte dich umbringen können.«
»Ja, ich erinnere mich daran«, flüsterte Raine. »Und ich glaube, das wäre ihm auch fast gelungen.«
»Ich weiß nicht, was ich zu ihm gesagt habe. Natürlich habe ich mich dumm gestellt. Das konnte ich schon immer gut. Ich habe es so aussehen lassen, als seist du hysterisch und hättest zu viel Fantasie. Damit er weder dich noch mich als Gefahr für sich empfand.« Alix schniefte. »Und dann war mein einziger Gedanke, dich möglichst weit weg von diesem ganzen Chaos zu bringen.«
»Und mich alles vergessen zu lassen?«
Alix nahm Raines Haar in die Hand und kämmte es von der Unterseite. »Und dich vergessen zu lassen«, bestätigte sie. Sie rutschte auf dem Bett zur Seite, sodass sie Raine ins Gesicht sehen konnte. »Ich hätte niemals geglaubt, dass Victor Peter etwas antun könnte. Glaub mir, Honey. Victor hat Peter immer mehr wie einen verwöhnten Sohn behandelt, nicht wie einen Bruder. Er hat ihn geliebt.«
»So sehr, dass er die Frau seines Bruders verführt hat?«
Alix zuckte zurück. »Raine!«
»Es stimmt, nicht wahr?«
»Das ist wohl kaum wichtig«, fuhr Alix sie an. »Oder angemessen.«
»Sei nachsichtig mit mir, Mutter«, sagte Raine unbeirrt. »Wer war wirklich mein Vater? Victor oder Peter?«
»Ist das jetzt noch wichtig?«
Raine warf ihr einen stählernen Blick zu. »Mir zuliebe.«
Alix seufzte und sah auf den Kamm in ihrer Hand. Für einen Moment wirkte sie so alt, wie sie war.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie erschöpft. »Wende dich an ein Genlabor, wenn dich das so sehr interessiert. Es war eine sehr wilde Zeit in meinem Leben damals. Es gibt weite Strecken, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere.«
Raine hörte ihr genau zu, und all ihre Sinne, die in den letzten Wochen so außerordentlich geschärft worden waren, waren wachsam. Ihr fiel die Ernsthaftigkeit in der Stimme ihrer Mutter auf. Allein das war ein Wunder und etwas, wofür man dankbar sein musste. Sie rutschte näher, wobei sie versuchte, ihre Rippen zu schonen. Sie holte tief Luft und ging ein großes Risiko ein. Sie legte ihren Kopf auf Alix’ Schulter.
Für einen Moment erstarrte Alix, dann streckte sie die Hand aus und strich Raine scheu übers Haar. »Es ist nicht mehr wichtig, wer von beiden es war.« Sie klang, als wollte sie sich selbst überzeugen.
»Nein, nicht für mich«, stimmte Raine ihr zu. »Ich habe jetzt zwei Väter verloren.«
Alix tätschelte sie erneut, ihre Hand war steif und unbeholfen. »Aber du hast noch eine Mutter«, sagte sie knapp. »So wie sie eben ist.«
Von der Tür her ertönte ein verlegenes Hüsteln. Der kleine Moment der Gnade war vorbei.
Clayborne zappelte im Türrahmen herum. »Entschuldigen Sie, Ms Lazar, aber es gibt da etwas, worauf ich Sie aufmerksam machen muss«, sagte er nervös.
Raine wischte sich die Tränen aus den Augen. »Kann das nicht warten?«
»Äh … es wird nicht lange dauern. Mr Lazar hat genaue Anweisungen gegeben, was nach der Verbrennung mit seinen sterblichen Überresten geschehen soll, aber zwei Tage vor den Ereignissen, die zu seinem Tod geführt haben, hat er diese Anordnungen geändert.«
Raine und Alix blickten einander an. Dann wandte sich Raine wieder Clayborne zu. »Und?«, fragte sie
»Er hat Sie damit beauftragt, sämtliche Entscheidungen zu treffen.«
Raine blinzelte. »Mich?«
Hilflos hob Clayborne die Schultern. »Ich fürchte, es ist eine weitere Bedingung in seinem Testament.«
Das Boot schaukelte sanft auf dem sich kräuselnden Wasser. Sie hatte Charlie gebeten, sie zu der Stelle zu fahren, an der sie vor siebzehn Jahren Peters Segelboot gesehen hatte. Charlie schwieg respektvoll, während sie ins Wasser starrte, die weiße Urne mit Victors Asche auf dem Schoss. Sie war dankbar, dass Victors Angestellte sich um sie gekümmert hatten. Außer Mara, die sofort abgereist war. Mara war wegen Victors Tod vollkommen untröstlich gewesen.
Raine schloss die Augen, als sie einen starken, dumpfen Schmerz in ihrer Brust spürte. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Seth.
Er hatte es mehr als deutlich gemacht, dass er ihr niemals würde vertrauen können, und ihre Verwandtschaft mit Victor hatte dieses Urteil nur besiegelt. Er würde nie akzeptieren, dass sie
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