Die Nacht Hat Viele Augen -1-
eiskalter, mieser Bastard, aber ich bin froh, dass du nicht tot bist. Damit möchte ich mein Gewissen nämlich nicht auch noch belasten.«
Der Sanitäter legte ihr eine Decke um die Schultern und führte sie weg. Sie würdigte Seth keines Blickes mehr.
Man musste ihr irgendetwas wirklich Starkes gespritzt haben, denn alles um sie herum schien zu verschwimmen, und sie blieb ganz allein in diesem weißen Nebel zurück. Einmal glaubte sie, Seth gesehen zu haben, aber das musste ein Traum gewesen sein, denn Victor und Peter standen rechts und links von ihm. Sie streckte die Hand aus, doch sie fiel schlaff und nutzlos auf die Decke.
»Sind wir jetzt beide tot?«, fragte sie ihn.
»Nein«, antwortete er. Seine Augen wirkten hohl und traurig.
Wieder versuchte sie, ihn mit den Augen in ihren Bann zu ziehen, aber ihre Lider wollten einfach nicht offen bleiben, und jetzt war sie es, die von ihm wegtrieb.
»Ich liebe dich! Stirb nicht!«, rief sie und versuchte, ihn mit ihren Worten einzufangen.
»Das werde ich nicht«, sagte er. Sie trieb hinaus in den weißen Nebel und klammerte sich an sein Versprechen wie an einen Rettungsring.
Als sie das nächste Mal erwachte, wusste sie, dass sie nicht tot war, denn ihre Mutter saß an ihrem Bett. Ihre Miene ähnelte der einer Katze, die vor einem Mauseloch auf der Lauer lag. Nichts war realer und fassbarer als Alix, wenn sie diesen Ausdruck im Gesicht hatte.
»Es wird aber auch Zeit, dass du aufwachst, Lorraine. Ich bin ja halb verrückt geworden vor Angst. Du siehst furchtbar aus. Zwei blaue Augen, Schürfwunden, Schnitte, Verstauchungen, gebrochene Rippen, eine ausgekugelte Schulter, die Gelenkkapsel eingerissen. Du bist in einem grauenhaften Zustand. Natürlich musstest du wieder all das tun, wovon ich dir schon dein ganzes Leben lang gesagt habe, dass du es lassen sollst. Aber nein. Genau wie dein Vater.«
»Welcher?«, flüsterte sie.
Raine fiel wieder in einen Dämmerzustand, noch bevor sie Alix’ geschockten Gesichtsausdruck genießen konnte.
28
Er spulte den Videoclip zurück und ließ ihn noch einmal laufen.
Die Bilder zeigten den Anlegesteg von Stone Island. Er hatte sich in der letzten Nacht hingeschlichen und das Material geholt. Sechsundneunzig Stunden Video. Er hatte alle Szenen mit Raine herausgeschnitten und aneinandergefügt. Diese sechs Minuten waren sein Lieblingsclip.
Sie kam zwischen den Bäumen hervor und ging langsam auf den Steg hinaus. Die blauen Flecken in ihrem Gesicht waren fast verschwunden. Ihre Haare hingen offen herab und umspielten ihren Körper. Sie trug ein weiches, eng anliegendes weißes T-Shirt. Keinen BH , wie deutlich zu sehen war. Ihre Brustwarzen bohrten sich in den Stoff. Sie brauchte eine Jacke. Es ärgerte ihn, dass sie nicht daran gedacht hatte, eine überzuziehen. Sie kümmerte sich nie um sich selbst. Wäre er dabei gewesen, hätte er auf einer Jacke bestanden.
Eine Böe wehte ihr das Haar aus dem Gesicht. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und starrte hinaus aufs Wasser. Als würde sie auf etwas warten. Oder auf jemanden.
Er hörte ein Auto die Zufahrt entlangfahren. Er beugte sich aus dem offenen Chevy und spähte die Straße hinunter. Es war Connors Wagen. Er klickte das Fenster mit dem Video weg und klappte den Laptop zu. Kommentare über seine zwanghafte Freizeitbeschäftigung waren das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.
Connor stieg aus dem Wagen und kam zu dem Chevy gehinkt. Er stützte sich auf seine Krücke und nickte Seth zu. »Hey.«
»Was gibt’s?« Seth fiel es schwer, Interesse dafür vorzutäuschen, was inzwischen sonst noch passiert war, aber aus purer Höflichkeit gab er sich Mühe.
»Ich habe gerade einen Anruf von Nick bekommen, aus der Höhle. Novak wird es schaffen. Seans Schuss in die Brust hat nur seine Weste aus Kevlar getroffen. Der paranoide Bastard. Und dein Beinschuss hat seine Oberschenkelarterie knapp verfehlt. Wirklich schade.«
Seth grunzte angeekelt. »Ich hätte auf seinen Kopf zielen sollen.«
»Tröste dich mit der Tatsache, dass er dank dir noch ein paar mehr Finger an seiner linken Hand verloren hat. Das wird ihn ohne Ende nerven, sobald er wieder bei Sinnen ist.«
»Was ist mit Riggs?«
»Er sitzt im Gefängnis und leckt seine Wunden. Keine Kaution.«
»Und seine Tochter?«
Connors Miene verhärtete sich. »Erin geht es gut. Sie ist natürlich ziemlich sauer auf mich, aber das war ja zu erwarten. Sie sagt, Georg hätte sie nie angefasst. Aber ich habe ihm
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