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Die Nacht Hat Viele Augen -1-

Die Nacht Hat Viele Augen -1-

Titel: Die Nacht Hat Viele Augen -1- Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shannon Mckenna
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zurückfahre.«
    »Feigling«, hörte er Sean murmeln.
    Er drehte sich nicht um. Mit brüderlichen Sticheleien konnte er im Moment nicht umgehen. Er starrte lieber auf irgendwelche Felsen oder Bäume. Nach zehn Monaten ohne Jesse war er nicht mehr in Übung, wenn es darum ging, geneckt und verspottet zu werden. Er drängte sich zwischen den Tannen hindurch und fluchte, als die Äste nach ihm schlugen. Verdammte Natur. Er hatte noch nie verstanden, warum Menschen freiwillig bei jeder Gelegenheit an der frischen Luft herumliefen. Jesse hatte versucht, ihn zu überreden, mit ihm wandern zu gehen, aber Seth hatte sich bis zum bitteren Ende geweigert.
    So wie er sich allem verweigert hatte. Immer.
    Der Gedanke ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. Er stand zwischen lauter jungen Bäumen. Ihre Spitzen reichten gerade bis auf die Höhe seines Herzens. Sie schwankten im Wind. Er starrte sie an und fragte sich, warum er Jesses Bemühungen, ihm zu helfen, immer zurückgewiesen hatte. So wie er die McClouds zurückwies. Er wies die ganze verdammte Welt zurück.
    Ebenso wie Raine.
    Ein heftiger Windstoß von den schneebedeckten Gipfeln fuhr durch das Wäldchen, und die kleinen Bäume bogen sich. Doch sofort richteten sie sich wieder auf. Ohne seine Jacke war ihm kalt, aber er konnte nicht zurückgehen und sie holen und sich den strahlenden, aber forschenden Blicken der McCloud-Brüder aussetzen. Noch nicht.
    Der Van war gepackt und bereit zur Abfahrt. Sein Geschäft brauchte ihn, nachdem er es all die Monate so vernachlässigt hatte. Sein Alltag wartete auf ihn – sicher und berechenbar.
    Aber ein Tag folgte auf den anderen, und immer wieder liefen die gleichen Bilder vor seinem geistigen Auge ab. Jedes einzelne Mal, das er mit Raine geschlafen hatte, war in seine Erinnerung eingebrannt. Jedes Wort, jeder Duft, jeder Seufzer. Ihre Haut, ihre Zärtlichkeit und ihr Mut. Die Frau war unglaublich. Sie hatte etwas Besseres verdient als einen übellaunigen, vulgären Hurensohn wie ihn.
    Verblüffend. Er schwamm ja geradezu in Selbstmitleid. In seinem Hinterkopf hörte er Jesse, der kicherte und ihm sagte, er solle endlich aufhören, sich einen runterzuholen. Hör auf, die alten negativen Platten abzuspielen , so hatte Jesse es immer genannt, wenn er wieder mal in Psychogelaber verfallen war. Gott, wie ihn das geärgert hatte.
    Seth trat zwischen den Bäumen hervor und fand sich auf einem weitläufigen, grasbewachsenen Plateau wieder. Am Rand fiel es steil ab in einen Canyon. Ein Wasserfall stürzte rauschend in die Tiefe. Es war kein hoher, beeindruckender Wasserfall, aber trotzdem starrte er ihn verblüfft an, fast hypnotisiert von den milchigen Kaskaden aus Schaum, die auf beiden Seiten eines moosbewachsenen Felsens hinabstürzten. Das Wasser landete unten in einem aufgewühlten Teich, wo es in tiefem Grün zu glühen schien.
    Und zum ersten Mal bekam er eine ungefähre Ahnung davon, warum Menschen ihre Häuser verließen, Insektenstiche und Langeweile ertrugen, nur um solche Dinge sehen zu können. Es war wirklich hübsch. Spektakulär geradezu.
    Er schlenderte näher heran und betrachtete den Wasserfall eine ganze Weile. Das unaufhörliche Rauschen und Donnern ließ ihn innerlich zur Ruhe kommen. Und plötzlich gab es sogar Raum in seinem Kopf für einen Gedanken, der sich entfalten konnte, ohne dass er zurückzuckte.
    Er hatte Raine von sich gestoßen, weil er überzeugt war, dass sie ihn ohnehin früher oder später wegstoßen würde. Und er würde es nicht ertragen können, verlassen zu werden. Lieber übersprang er diesen Teil und ergab sich gleich dem Schicksal der Einsamkeit.
    Eine schnelle Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Hase war aus dem Wald gekommen. Sie sahen einander an. Es war ein langer, kühler Moment gegenseitigen Misstrauens. Dann zog sich der Hase diskret wieder zwischen die Bäume zurück und lenkte Seths Aufmerksamkeit damit auf einen quadratischen glänzenden Stein im Gras. Er ging hinüber zu der Stelle. Es war ein Grabstein, der bündig in den Erdboden eingelassen war. Das Gras drumherum war kurz geschnitten und der Stein sorgfältig von Flechten und Moos befreit, das die anderen Felsbrocken in der Nähe überwucherte. Er hockte sich hin und fegte die Blätter und Tannennadeln herunter.
    Kevin Seamus McCloud
    10. Januar 1971 – 18. August 1992
    Geliebter Bruder
    Eine längst verschüttete Erinnerung regte sich in seinem Hinterkopf. Jesse hatte erwähnt, dass sein Partner vor einigen Jahren

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