Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Angst. Es schnitt ihr vielleicht ins Herz, aber sie war nicht im Geringsten abgeschreckt. Auf die eine oder andere Weise hatte seine Kindheit viele Gemeinsamkeiten mit ihrer eigenen. Die Entfremdung, die Einsamkeit. Wahrscheinlich auch die Furcht, obwohl sie sicher war, dass er lieber sterben würde, als das zuzugeben.
Sie streichelte das kurze, weiche Haar in seinem Nacken und rieb ihr Gesicht an seiner kratzigen Wange. Dann lächelte sie ihn an.
»Nein«, sagte sie sanft. »Du erschreckst mich überhaupt nicht. Erzähl weiter.«
9
Raines Worte lösten eine Welle purer Emotionen in ihm aus. Sein Schutzwall hatte an diesem Abend einen Riss bekommen. Die fürchterlichen Details seiner Vergangenheit gingen niemanden etwas an, aber die Worte waren einfach so aus ihm herausgesprudelt. Sie war diejenige, die kaum noch etwas anhatte, aber er war es, der sich nackt fühlte.
Er umfasste ihre weiche, nachgiebige Taille und versuchte sich daran zu erinnern, ob er jemals mit einer anderen Frau über seine harte Kindheit gesprochen hatte. Als Gesprächsthema war es nicht besonders verführerisch. Für Raine schien das allerdings nicht zu gelten. Trotzdem bestand nach wie vor die Möglichkeit, dass sie ihm für Lazar Informationen aus der Nase zog, doch wenn er in ihre geheimnisvollen Augen sah und ihren weichen, bebenden Mund betrachtete, bezweifelte er es.
Ihre Hände waren so sanft, wenn sie sein Gesicht streichelten. Das lenkte ihn ab.
»Okay«, murmelte er und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Eines Tages bin ich dann bei diesem Typen eingebrochen, und er tauchte plötzlich aus dem Nichts auf und drückte mir eine Para-Ordnance P14 Kaliber 45 ins Genick. Es stellte sich heraus, dass er ein Cop im Ruhestand war, ein Kerl namens Hank Yates. Er hat mich ein bisschen hart angefasst, um mir eine Lektion zu erteilen, und dann zerrte er mich zum Revier.«
Seine Kehle zog sich zusammen. Er schluckte und verstummte. Es war ihm einfach nicht möglich zu erzählen, wie Hank ihn im Genick gepackt hatte, um ihn ins Auto zu stoßen, und dabei bemerkt hatte, dass der diebische, großmäulige Junge vor Fieber fast kochte und Blut hustete. Am Ende hatte er Seth in die Notaufnahme des Krankenhauses gefahren, wo man eine Lungenentzündung diagnostizierte, die er sich durch eine unbehandelte Bronchitis geholt hatte. Als er sich schließlich erholte, hatte der ruppige, selbstgerechte alte Bastard so ein schlechtes Gewissen gehabt, weil er einen kranken Jungen verdroschen hatte, dass er es sich zur Aufgabe machte, Seth von der schiefen Bahn zu holen. Gott, wie peinlich.
Das war ihm so auf den Sack gegangen. Hank war ein sturer und autoritärer Mensch gewesen, ein einsamer Witwer, der sich schon vor langer Zeit von seinen eigenen Kindern entfremdet hatte. Seth und er waren am Anfang heftig aneinandergeraten, aber nach einer sehr stürmischen Zeit hatten sie erkannt, dass sie einander brauchten. Hank hatte es gut gemeint, und auf seine ganz eigene Weise war Seth ihm dankbar gewesen. Insbesondere deswegen, weil er mit Hanks Hilfe dafür sorgen konnte, dass Jesse ebenfalls eine Chance bekam.
Zumindest bis vor zehn Monaten.
Raine wartete geduldig und streichelte immer noch sein Gesicht. Er versuchte sich daran zu erinnern, wo in den tiefen Abgründen seiner Kindheit er sich verloren hatte. »Wo war ich?«, fragte er.
»Hank war gerade dabei, dich aufs Revier zu schaffen«, erinnerte sie ihn sanft.
»Oh. Richtig. Nun ja, das hat er nicht getan. Er hat dann beschlossen, mich selbst auf den rechten Weg zu bringen, und nach einer Weile habe ich es dann auch zugelassen. Ich war klug genug zu erkennen, dass mein Lebensstil keine große Zukunft hatte.«
»Ja?«, hakte sie nach. »Und?«
»Es ist eine lange Geschichte, aber unter dem Strich hat er mich gezwungen, meinen Highschool-Abschluss zu machen. Danach hat er noch mehr gedrängelt, bis ich in der Army gelandet bin. Hank war ein Fan der Army.«
Gott, es war so lange her, dass er es überhaupt zugelassen hatte, über all diese Dinge nachzudenken. Sein Hirn lieferte ihm ganz von allein eine Erinnerung nach der anderen, als würde er sich einen alten Film ansehen. Sogar Hanks raue Stimme konnte er nun hören.
»Komm schon, Kleiner, wo sonst sollst du all den technischen Kram lernen, der dir so gefällt? Hast du irgendwo achtzigtausend Mäuse in einer Matratze versteckt, um nach Stanford zu gehen? Hast du irgendwelche reichen Verwandten? Willst du eine Bank überfallen? Nein,
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