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Die Nacht in Issy

Die Nacht in Issy

Titel: Die Nacht in Issy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Borell
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ich.
    »Ja«, sagte ich, »aber was ist mit Dedé?«
    Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Ach — Dedé! Der bringe ich das schon bei, und wenn sie Geschichten macht — «
    Er vollendete den Satz nicht, aber eine Bewegung seiner Hand deutete mir an, was er mit Dedé vorhatte, falls sie mit meinem verlängerten Besuch nicht einverstanden wäre.
    Somit war die Wohnfrage für mich zunächst erledigt; sie hatte mir ernstliche Sorgen bereitet. Aber was sollte ich tun, wenn man Gustave wirklich festnahm? Ich schob diesen Gedanken vorerst beiseite.
    Wir drehten uns Zigaretten und rauchten. Ich holte den >Matin<, den Gustave beiseite gelegt hatte, und schlug den Artikel über Alexandre Bouchard auf.
    »Hast du den gekannt?« fragte ich Gustave.
    »O ja«, antwortete er, »ganz gut sogar. Während des Krieges, und erst recht später haben wir viel für ihn gearbeitet. — Aber er kennt uns schon lange nicht mehr, das Schwein!« Er schlug mit der Faust auf die Zeitung, und an seiner Stirn zeichneten sich die Adern ab.
    »Unfall«, rief er, »Unfall! Das weiß man, wie solche Unfälle aussehen. Besoffen wird er gewesen sein, und an einen Baum gefahren! Aber davon werden sie nichts schreiben. Du wirst sehen, Jean, so wahr ich hier sitze, sie werden ihm noch einen großen Nachruf bringen! — Immer ist das so: wenn einer fünfzig Francs krummbiegt, dann ist er ein Lump, bei fünfhundert oder fünftausend ist er ein Hochstapler, und wenn’s fünf Millionen sind, dann ist er ein berühmter Finanzmann. Dieser Bouchard hat mehr als fünf Millionen krumm gebogen.«
    »Hm — «, machte ich.
    »Pierre kennt ihn auch«, fuhr er fort, »und vor allem Francois. Francois war der einzige, der noch bis jetzt Verbindung zu ihm hatte.«
    »Was weiß man sonst von Bouchard?« fragte ich.
    Gustave zuckte die Achseln.
    »Nicht viel. Während des Krieges wurde er bekannt. Muß aber schon vorher ganz gut versorgt gewesen sein.«
    »Ist ja auch egal«, sagte ich und stand auf. Ich trat ans Fenster und schaute hinaus. Ich überlegte, wie ich den Mörder Alexandres finden könnte. Ich mußte ihn finden.
    Ich bürstete meinen Anzug aus. Obwohl es keine gute Qualität war, sah er noch ganz anständig aus; ich hatte ihn ja neun Jahre lang nicht getragen.
    »Willst du weg?« fragte Gustave.
    »Ja, ich habe noch etwas zu erledigen.«
    »Kannst du das nicht nach dem Mittagessen tun? Dedé wird gleich zurück sein.«
    Ich merkte, daß er mich nicht gern gehen lassen wollte. Er mußte sich ziemlich unsicher fühlen.
    »Leider«, sagte ich, »ich muß vor zwölf dort sein.«
    »Ich kann sie auch auf dem Speicher verstecken«, sagte Gustave und holte die Pistole wieder aus der Tasche, »am Kamin sind ein paar Steine locker, da wird man sie nicht finden.«
    »Hoffentlich suchen sie gar nicht danach«, tröstete ich ihn und verließ das Zimmer.
    Als ich auf die Straße trat, ging gerade ein kleiner Mann mit grauen, zotteligen Haaren vorbei. Er war etwa fünfzig Jahre alt und trug eine Brille. Ich glaubte, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo. Ich wartete, bis er weit genug war, dann ging ich den Boulevard des Invalides in Richtung zur Seine hinunter. Ich ging langsam und schaute mir die Schaufenster an; ganz besonders aber die Stände der Zeitungsverkäufer. Plötzlich fiel mir ein, daß ich Glück gehabt hatte — oder einen Schutzengel — , wie man will. Ich erinnerte mich nämlich an meine Entlassung aus dem Zuchthaus. Ich war an diesem Morgen der einzige gewesen, aber zur gleichen Zeit, als ich mich im Büro auf hielt, war ein neuer Schub gekommen, und es ging etwas durcheinander.
    »Schon fotografiert worden?« hatte mich der Beamte gefragt, der mir meine Entlassungspapiere gab. Und ich hatte einfach ja gesagt, obwohl ich nicht fotografiert worden war. Nun hatten sie von mir nur die Fotos, die auf der Polizei vor meiner Einlieferung gemacht worden waren; diese Fotos waren neun Jahre alt, und ich hatte damals noch gute dreißig Pfund mehr gehabt als im Augenblick. Mein Gesicht war auf diesen Bildern rundlich, und der Haaransatz reichte noch ziemlich weit in die Stirn herein. Jetzt dagegen war ich schmal wie eine Spitzmaus, und meine Stirn war zwei Finger breit höher geworden. Wenn sie einen Steckbrief herausgaben, brauchte ich wenigstens wegen des Bildes nicht allzu ängstlich zu sein.
    Ich sah nichts Neues in den Zeitungsständen. Die Abendblätter kamen samstags schon etwa um ein Uhr mittags, und

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