Die Nacht in Issy
Zwischenfalls Germaines Haus nicht aus den Augen gelassen; nun kehrte ich auf meine Bank zurück, auf der inzwischen ein junger Bursche Platz genommen hatte. Er las in einem Magazin und kaute Gummi. Ich überlegte mir sofort, ob ich ihn irgendwoher kannte. Ich fing schon an, überall Gespenster zu sehen.
Ein Mann mit Zeitungen kam vorbei.
»Die neuesten Sensationen!« rief er. »Der Mord von Issy! - Alexandre Bouchard ist ermordet worden! — Es war kein Unfall!«
Er blieb vor uns stehen, sah uns erwartungsvoll an und wiederholte seine verlockende Schlagzeile.
Ich kaufte das Blatt; es war die Samstag-Nachtausgabe des >Paris Journal<, und sie hatte die Sache groß aufgemacht.
Ein Bild Alexandres, und darunter mein eigenes. Genauer gesagt, meine beiden; einmal von vorn und einmal von der Seite. Es waren die Aufnahmen, welche die Polizei hatte, und außerdem waren sie schlecht reproduziert.
»Der Mord von Issy! Alexandre Bouchard ist ermordet worden.«
Das war die Schlagzeile, und darunter stand:
»Sein Bruder, Dr. Jean Bouchard, des Mordes dringend verdächtig.«
Ich begann zu lesen. Der junge Mann neben mir hatte sein Magazin zugeklappt und las von der Seite her mit.
»Wie wir soeben erfahren, wurde Alexandre Bouchard, der Generaldirektor der >Union-Motors<, heute nacht ermordet.
Die Polizei fand ihn gegen Morgen tot vor seiner Villa in Issy. Zunächst wurde ein Unfall angenommen; inzwischen erhielten wir aber die Nachricht, daß es sich um einen Mord handelt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde der bekannte Finanzmann von seinem Bruder, Dr. Jean Bouchard, erschossen. Nähere Einzelheiten lagen bei Redaktionsschluß noch nicht vor, wir werden aber in unserer Montag-Ausgabe ausführlich darüber berichten. Dr. Jean Bouchard, der Mörder, ist ein verkommenes Subjekt, das bereits vor zehn Jahren wegen Totschlags eine hohe Zuchthausstrafe verbüßen mußte. Auch über Dr. Jean Bouchard werden wir am Montag ausführlich berichten.«
Ich betrachtete die Bilder ganz genau. Ich sah meine etwas zu niedrige Stirn, die ein wenig zu große Nase und mein schwaches, weiches Kinn.
»Sieht richtig aus wie ein Verbrecher, was?« sagte der junge Mann und tippte auf die beiden Bilder.
»Das kann man nicht immer so sagen«, meinte ich. Ich war merkwürdig ruhig und konnte über mich sprechen wie über einen Fremden.
»Und ein Doktor war er sogar? Ob sie ihn schon haben?«
»Sieht fast so aus«, sagte ich, »deshalb bringen Sie hier sein Bild mit der Aufforderung, ihn der Polizei zu melden.«
»Ach so, ja, — ob das was hilft?« meinte er. »Man schaut sich doch die Leute nie so genau an.«
»Vielleicht setzen sie noch eine Belohnung dafür aus.«
Der junge Mann zuckte mit den Schultern und blätterte wieder in seinem Magazin.
»Sowas bekommt man ja doch nie«, sagte er und spuckte seinen Kaugummi in hohem Bogen auf die Straße, »so’n Dusel müßte man haben.«
Ich fragte geradezu:
»Würden Sie ihn sofort festhalten und der Polizei übergeben?«
»Gegen Belohnung? — Klar!«
»Und ohne Belohnung?«
»Wär’s mir ganz wurst. Da sollen sie ihn selber fangen.«
Er blätterte eine Weile, und ich las den Artikel nochmals, Wort für Wort.
»Warum er den wohl gekillt hat?« fragte mein Nachbar plötzlich. »Es war doch sein Bruder, was?«
»Ja«, erwiderte ich.
Der junge Mann zwinkerte mit den Augen.
»Weibergeschichten«, meinte er, »ganz bestimmt. Wenn der eine ein Finanzmann ist und der andere ein Doktor — dann sind’s todsicher Weibergeschichten. Blöd, was?«
»Was ist blöd?«
»Wegen eines Weibes einen andern umzubringen.«
»Furchtbar blöd«, bestätigte ich und blickte auf die Straße. Ich kannte den Mann, der da kam. Es war Francois.
Er trug einen hellgrauen Zweireiher, ein rosa Hemd mit weit vorstehenden Manschetten, und in der Hand hielt er einen weichen, hellgrauen Hut und leuchtend gelbe Schweinslederhandschuhe. Zwischen seinen Lippen hing die unvermeidliche Zigarette; er war Kettenraucher und hatte immer braune Finger.
Er kam langsam von der Place de la Concorde herauf. Ich verbarg mich ein wenig hinter meiner Zeitung, beobachtete ihn aber genau. Er blieb vor dem Haus stehen, las die Schilder und ging hinein. Ich nahm an, daß er Germaine besuchen würde, und zerbrach mir den Kopf darüber, was er von ihr wollte. Ich wußte ja, daß er mit Alexandre in Verbindung gestanden hatte; aber wozu besuchte er nun Germaine?
Kurz entschlossen ging ich wieder zum Telefon und verlangte nochmals
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