Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
›Wie war die Reise?‹«, sagte Mickey, und sie lachte.
»Wir haben in der Regel mehr miteinander geredet. Aber nicht viel mehr, um ehrlich zu sein. Sie …«, sie machte eine Pause. »Ich dachte immer, dass man von mir erwartete, dass ich irgendwie ihren Standard erreichte. Typischer Kinderquatsch, du weißt schon, ›Mutter hat dich immer lieber gehabt. ‹«
»Hat sie das?«
»Ich glaube nicht, nein. Ardeth hat einmal gesagt, sie hätte gedacht, Mom hätte mich lieber gehabt. Wer will sich da also schon auskennen. Als unsere Eltern starben, wurde es noch schlimmer. Ardeth fing an, sich aufzuführen, als ob sie meine Mutter wäre. Manchmal war es, als ob wir unterschiedliche Sprachen gesprochen hätten – so dass es, selbst wenn wir dasselbe meinten, so rauskam, als müssten wir uns darüber streiten.« Sie kippte den Stuhl nach hinten und blickte zur Decke. Dann sah sie wieder auf ihr Glas, drehte es in der Hand. »Einmal, als wir noch Kinder waren, habe ich bei einer Schulaufführung mitgespielt. Es war irgendetwas aus der griechischen Mythologie oder so. Wir hatten diese weißen Laken, die wir als griechische Gewänder tragen mussten. Ardeth hat der Scheiß großen Spaß gemacht, Mythologie, Geschichte, alles, was alt und tot war – sie hat das richtig genossen. Also fand sie ein Buch mit Zeichnungen von griechischem Schmuck und hat mir dieses Halsband gebastelt. Sie hat es aus Papiermaché gemacht und es blau, gold und rot angemalt. Wahrscheinlich hat es ziemlich schrecklich ausgesehen – Ardeths Stärke liegt in ihrem Verstand, nicht in ihren Händen. Aber ich bin mir in dem Ding wie die Königin des Olymps vorgekommen. Weil es die erste Sache war, die sie jemals mir geschenkt hat – mir, dem kleinen Mädchen, das gerade singen lernte, das gerade anfing, wirklich ich zu sein. Ich trug es jedes Mal, wenn wir auf der Schulbühne standen. Jahrelang habe ich es behalten. Weil es bedeutete, dass sie mich …«, ihre Stimme brach, und sie starrte ihre Hände an, Tränen traten ihr in die Augen, »… dass sie mich dieses eine Mal geliebt haben muss.«
»Sara …«
»Herrgott, es tut mir leid.« Sie warf den Kopf in den Nacken und blinzelte ins Licht, als ob die elektrische Wärme ihre Tränen trocknen könnte. »Ich dachte, ich hätte das hinter mir. Ich klinge ja wie aus einem beschissenen Disneyfilm.«
»Ich glaube nicht, dass man in einem Disneyfilm ›beschissen‹ sagen darf«, meinte Mickey, und Sara lachte, lauter als die Bemerkung das verdiente. Ihr Lachen erklärte die Tränen und geröteten Wangen, als die Band die Köpfe in die Küche steckte, um zu verkünden, dass die Jays einzig und allein infolge ihrer moralischen Unterstützung das Spiel gewonnen hatten.
»Nun, und jetzt, wo wir dein Essen verspeist und in deinen Fernseher geglotzt haben, sollten wir wohl besser gehen. Wir sehen uns dann morgen Abend im Rush«, verkündete Tom. »Wir fahren in die Stadt – Mickey, willst du mitkommen?«
In der plötzlichen Stille spürte Sara Mickeys Blick, spürte, dass er auf ein Zeichen von ihr wartete, das verriet, was sie wollte. Was will ich? Wenn sie fragte, dann würden sie alle bleiben. Die Jungs würden sie mit ihnen gemeinsam in einem Haufen von Kissen und Decken auf dem Wohnzimmerboden schlafen lassen, wie sie das schon so oft auf so vielen Böden getan hatten. Wenn sie fragte, würde Mickey auch alleine dableiben, würde vielleicht die allgegenwärtige Erinnerung an Ardeth aus dem kalten Bett im nächsten Zimmer vertreiben.
Sie sagte nichts.
»Klar«, antwortete Mickey nach einer Weile. Der Stuhl scharrte über den Boden, als er aufstand. In der leeren Küche wischte sie sich die Augen und lauschte dem Rascheln von Lederjacken, die angezogen wurden, dem Ritual von Witzeleien, als die Band sich zu gehen anschickte. Sie wartete, bis sie hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde, bis es zu spät war, um die Jungs mit einem Funken menschlicher Würde zurückzurufen, ehe sie aufstand und in den kleinen Eingangsflur hinausging.
Sie waren ein Stück den Korridor hinunter, als sie noch einmal stehen blieben, um ihr zuzuwinken und ihr in übertriebener Sorge, nur ja nicht zu laut zu sein, lautlos einen Abschiedsgruß zuzurufen und sich damit darüber lustig zu machen, dass sie darauf bestand, dass Ardeths guter Ruf bei ihren Nachbarn nicht ruiniert wurde. Es war beinahe komisch – sie, die schon die Gastgeberin von so vielen Partys gewesen war, die nur die von den Nachbarn gerufene Polizei
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