Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
sehr langsam. Während sie auf die Nacht wartete, die sie brauchte, um ihn unentdeckt verlassen zu können, spürte Ardeth oft die Sehnsucht nach Wärme und Licht und vielleicht nach einem Buch, um sich die Zeit zu vertreiben. Aber das war ein Sehnen, das wohl den Lebenden gehörte und einer Welt, die sie verloren hatte, und so saß sie auf dem Treppenabsatz und ließ das Mondlicht den von einem Heiligenschein umgebenen Kopf des zum Märtyrer gewordenen Heiligen auf ihre Haut malen.
Als die Stimmen auf der Straße verklangen und das durchdringende Dröhnen von Rapgesängen aus den Ghettoblastern deren Besitzern die Straße hinunterfolgte, ging sie in das Untergeschoss zurück und zog sich an. Seit dem Tod von Philip wagte sie es nicht mehr, den Filzhut zu tragen, also ließ sie ihr dunkles Haar unbedeckt. Sie zog eine weite schwarze Jacke über ihr Black-Sun-T-Shirt und den kurzen Rock und setzte die runde Brille mit den aufklappbaren Sonnengläsern auf. Während sie sich anzog, spürte sie die ersten Regungen von Hunger. Es lag zwei Nächte zurück, dass sie sich zuletzt genährt hatte. Die Mischung aus gieriger Erwartung und Unsicherheit, die die Jagd jedes Mal in ihr hervorriefen, machte sie unruhig und gereizt. Das Trinken, das Stillen des nagenden Hungers, war immer noch süß, besonders seit sie gelernt hatte, den Drang etwas unter Kontrolle zu halten, der sie über die schmale Grenze zwischen Verführung und Mord treiben konnte. Aber danach … danach war da ein anhaltendes Schuldgefühl und eine Unzufriedenheit, die ihren unbekümmerten Genuss schmälerten. Eine kindliche Angst, dass dem Schwelgen die Strafe folgen würde. Und das bedrückte sie und lag wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Es veranlasste sie dazu, die rituellen Vorbereitungen auf die Nacht in die Länge zu ziehen.
Hör auf damit, befahl sie ihrem Abbild in dem Spiegel, der an eine Wand gelehnt stand. Niemand wird es zu schätzen wissen, dass du dich selbst beraubst. Was hat dir der Verzicht je eingebracht? Plötzlich flackerte eine Erinnerung hell und leuchtend im Mondlicht vor ihr auf. Ein Kind, das in einer Supermarktschlange wartet, während seine Mutter Nein sagt, keine Schokolade, und damit das Versprechen vergisst, das sie dem kleinen Mädchen, das sich doch so sehr darum bemühte, groß zu sein, gemacht hat. Sara, die an der anderen Theke lehnt, sich mit ihren pummeligen kleinen Fingern am Rand festklammert. Sara, die sich umdreht, ihr breites, verschmitztes Grinsen, der Mund voll mit roten Gummibärchen. Und sie, wie sie den Mund aufmacht, um es der Mutter zu sagen – aber zu spät. Die Gummibärchen verschwinden hinter dem Lächeln ihrer Schwester.
Ein Schwall von Zorn und Hunger spülte die Angst hinfort. Der Geschmack von etwas Heißem und Süßem, besser als jede Schokolade, erfüllte ihren Mund. Sie klappte die Sonnengläser herunter und trat in die Nacht hinaus.
Am Rand des Parks hielt sie einen Augenblick lang inne, hin- und hergerissen, ob sie nun in seine Dunkelheit eintauchen oder besser hinunter zu den Lichtern der Queen Street gehen sollte. Es lag etwas in der Luft, nicht ganz ein Geruch, nicht ganz ein Geräusch, das sie vom Gehweg herunterzog und auf den manikürten Rasen des Parks lenkte. Sie ging langsam auf die Villa zu, welche die Nordgrenze des Parks darstellte. Nichts regte sich unter den Bäumen – keine Landstreicher, die aus den Büschen herausstolperten, und niemand bot ihr chemisches oder physisches Vergessen für ihren Schmerz an. Sie war jetzt auf dem Fußweg angekommen und ging weiter, abwartend.
Ein Mann saß auf der Treppe der Villa, eine schäbige Gestalt in abgetragener Kleidung und mit grauem Haar. Ihr Blick streifte ihn, glitt in die Schatten davon und kehrte zurück. Die Nacht zersplitterte, verblasste, als plötzlich die Wahrheit vor ihr aufflammte, einen kurzen Augenblick lang so blendend wie die halbvergessene Sonne. Ihr Herz stockte, ließ seinen Namen in ihrer Kehle gefrieren, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, hatten die Bäume und der Weg um sie herum wieder feste Formen angenommen – aber er war immer noch da.
Sie zwang sich, ganz langsam zu gehen, und zählte jeden Schritt, bis sie am Fuße der Treppe ankam. »Ardeth.« Die Zärtlichkeit, die in diesem einen Wort lag, zerbrach die Kontrolle, die sie über sich hatte, trieb sie die Stufen hinauf in die Arme, die er für sie öffnete. Sein Kuss war so, wie er in jenem weit zurückliegenden Verlies gewesen
Weitere Kostenlose Bücher