Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
auch immer diese ›sie‹ sein mögen. Ich will meine Schwester sehen. Ich werde Ihnen nicht glauben, niemandem werde ich glauben, bis ich sie nicht gesehen habe.« Wieder herrschte lange Zeit Stille, und sie hörte das Rascheln von Tuch, als er seine Sitzhaltung veränderte.
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte der Mann nach einer Weile.
»Diese Feinde von ihr – sind die auch hinter Ihnen her?«
»Mit ein wenig Glück suchen die immer noch nur mich.«
»Wer sind Sie?«, wagte sie schließlich zu fragen.
Er erhob sich von dem Stuhl und trat nach vorn. Im schwachen Schein des Lichts, das schräg durch die Lamellen der Jalousie hereinfiel, konnte Sara erkennen, dass seine Kleidung schäbig war und schlecht saß. Aber in den Linien seines Gesichts unter dem wirren, grauen Haar war etwas Aristokratisches. Und die fahlen Augen besaßen etwas Zwingendes. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie immer noch in den zerwühlten Laken saß und nur einen Slip und ihr fadenscheiniges Sex-Pistols-T-Shirt trug.
»Wenn Sie das nicht wissen, ist es weniger gefährlich für Sie«, sagte er leise.
»Was haben Sie mit meiner Schwester zu tun.«
»Sie ist von meinem Blut«, antwortete er geheimnisvoll, und einen verrückten Augenblick lang fragte sie sich, ob er vielleicht ein lang verschwundener Verwandter war, irgendein vergessener Vetter zweiten Grades. »Ich will sehen, was sich tun lässt. Ich werde mit Ihnen Verbindung aufnehmen. Erzählen Sie niemandem von unserer Begegnung.« Er streckte die Hand aus und schob die Balkontür zurück. »Gute Nacht, Miss Alexander. Schlafen Sie gut.«
»Nach dem, was gerade war? Wahrscheinlich werde ich jetzt Alpträume haben«, sagte sie beißend. Er wandte sich ihr einen Augenblick lang zu, und sie sah das schwache Schimmern seines Lächelns.
»Das glaube ich nicht … Sara.« In seiner Stimme schwang eine Andeutung von Sarkasmus mit, dann verbeugte er sich leicht, und die Vorhänge schlossen sich hinter ihm.
Bis sie zur Tür gehuscht war, um sie wieder abzusperren, war der Balkon leer.
26
Der Duft der Nacht weckte sie – dunkel blühende Blumen, Auspuffgase, der ferne Geruch vom See. Sie drehte sich auf der schmalen Pritsche herum und öffnete dann ihre Augen der Dunkelheit. Hier im Untergeschoss des Kirchturms gab es kein Licht, aber als sie durch die Falltür ins Erdgeschoss stieg, zeichnete das Mondlicht, gefiltert von verstaubten Buntglasfenstern, Muster auf ihren nackten Körper.
Ardeth streckte sich und kletterte die steinerne Wendeltreppe hinauf, die sich durch das Innere des Turms in die Höhe wand, blieb stehen, als sie die schmale Plattform am Fenster erreichte. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte sie den Schmutz von einem Stück Glas gewischt und blickte jetzt durch das winzige Loch auf die Straße hinunter. Sie hörte Mütter, die ihre Kinder aus dem Park nach Hause riefen, das Plärren tragbarer Radios der Teenager, die darauf warteten, dass die Rituale der Nacht begannen. Sie vernahm das leise Plappern der alten Chinesen, die auf Bänken vor dem Turm saßen. Eine Stunde noch, dann würde Stille in den Park einkehren, mal abgesehen von einem gelegentlichen schnellen Rauschgifthandel, einer hastigen sexuellen Begegnung oder schnarchenden Betrunkenen.
Ihr Blick wanderte zu dem Efeu, der die Außenwände des Turms bedeckte. Die Brise ließ die Blätter sich kräuseln wie die Haut eines großen Tieres, das seine Muskeln bewegt. Sie wünschte, sie könnte das Fenster öffnen und den Duft tiefer in sich einsaugen. Sie stellte sich vor, wie jemand ihr bleiches Gesicht oben in dem offenen Fenster sah, wie eine Jungfrau in einem Märchen. Wie Rapunzel, dachte sie und lächelte bei der Vorstellung, was mit dem Prinzen geschehen würde, der versuchen sollte, ihren Turm zu ersteigen. Niemand schien je zu überlegen, dass Rapunzel möglicherweise aus gutem Grund in jenem Turm eingemauert gewesen war.
Der Turm der Kirche des heiligen Sebastian stand frei da – die ursprüngliche Kirche war schon lange abgebrannt. An ihre Stelle war ein anonymes modernes Gebäude getreten, durch Mauern und Hecken von dem Turm getrennt. Jemand hatte einmal hier gelebt, hatte die Pritsche zurückgelassen, die sie in den Keller hinuntergetragen hatte, aber in dem Monat, in dem sie jetzt den Turm schon als Unterkunft benutzte, war niemand in seine Nähe gekommen. Der Turm war still und dunkel und sprach ihren Sinn für Ironie an. Aber manchmal verstrich die Zeit in seinen engen Wänden
Weitere Kostenlose Bücher