Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
war: Licht in der Dunkelheit, Wärme in der Kälte, klarer Verstand im wabernden Wahnsinn. All die Umarmungen ihrer Opfer, das blinde Fummeln in Seitengassen und leeren Häusern, das sie für Genuss gehalten hatte, waren, wie sie jetzt erkannte, nur ein fahler Abklatsch dieser ursprünglichen Leidenschaft, dieses ersten Hungers. Sie vergaß die Wut, die sie auf ihn empfand, all ihre sturen Entschlüsse, ihn so aus ihrem Leben zu verbannen, wie er sie verbannt hatte. Sie vergaß alles außer der Gewissheit, dass sie nicht allein war.
»Du siehst schlimm aus«, sagte sie schließlich.
»Sei dankbar, dass das meine guten Kleider sind, sonst würde ich auch noch stinken«, erwiderte er und lachte, während sie hinter ihm die Stufen hinaufging und anfing, ihm mit einem Kamm, den sie aus der Tasche zog, das Haar zu ordnen. Sie saßen stumm für ein paar Augenblicke da, dann nahm sie ein Haarbüschel in die Hand und zog seinen Kopf nach hinten.
»Du hast mich verlassen.« Die Anklage hing einen Augenblick lang in der Luft.
»Ardeth …«
»Du hast mich verlassen. Tu das nie wieder.«
»So einfach ist es nicht.« Sie ließ seinen Kopf los und die Hand in den Schoß fallen.
»Es ist so einfach, wie wir es machen. Und sag mir nicht, dass wir Geschöpfe der Einsamkeit sind. Du hast mich vermisst. « Das stieß sie geradezu wild heraus, klammerte sich an die Erinnerung ihres Namens auf seinen Lippen, seiner Arme, die sich ihr entgegenstreckten.
»Mehr, als du ahnst. Mehr, als ich geglaubt hätte. Aber …« Rossokow blickte einen Augenblick lang starr auf den Park hinaus. »Wir stellen eine Gefahr füreinander dar.«
Wieder hörte sie den Widerhall alter Leiden in seiner Stimme. »Es ist nicht nur Armitage, nicht wahr? Es ist etwas Älteres … Was immer dich dazu veranlasst hat, Europa zu verlassen. « Sie sah, wie seine Schultern sich anspannten, und sein Blick ließ das dunkle Herz des Parks nicht los. Nach einer Weile begann er zu sprechen.
»Es war in Paris, 1865. Oh, wenn du es hättest sehen können. Die Stadt war bunt und entsetzlich, voller Vergnügungen, die die ganze Nacht durch währten, und Schmerz, der nie schlief. Dort bin ich Jean-Pierre begegnet. Er war der einzige andere Vampir, den ich seit meiner Verwandlung je kennengelernt hatte. Wir sahen einander das erste Mal in der Oper, während wir beide jagten. In der Pause umkreisten wir uns wie Wölfe, maßen einander, und jeder versuchte, den anderen zu dominieren. Am Ende schickte er eine Flasche Wein, sehr alten Wein, in meine Loge.
Dieser Waffenstillstand war der Anfang. Und dann, als sich unsere Wege häufiger in den Salons und Clubs und Villen kreuzten, wurden wir Bekannte, schließlich Freunde. Vielleicht waren wir beide einsamer, als jeder von uns gewusst hatte. Er war jünger als ich und viel wilder, als ich es je gewesen war, selbst in meiner verrücktesten Zeit. Er hatte eine wilde Unbekümmertheit an sich, die ansteckend war. Ich liebte ihn wie einen Bruder, wie den verrückten, zügellosen, faszinierenden jüngeren Bruder, den ich nie gehabt hatte. Und der ich nie gewesen war.
Wir verfügten beide über beträchtliches Vermögen, obwohl er das seine schneller ausgab. Ich zog in das Haus seiner Vorfahren, in dem er seit seiner Verwandlung vor zwanzig Jahren alleine gelebt hatte. In der Düsternis des Hauses pflegten wir den Tag zu verschlafen und bei Zwielicht aufzustehen, um uns an den reichen Genüssen zu laben, die die Stadt uns bot.
Wir waren in den besten Häusern von Paris willkommen. Die schönsten Frauen in der schönsten Stadt der Welt schickten uns parfümierte Briefe und luden uns in ihre Schlafzimmer ein. Wir kamen den Aufforderungen nach, manchmal gemeinsam, und verließen sie mit Träumen von Entzückung und ohne Erinnerung an das, was wir ihnen wirklich genommen hatten.
So hatten wir ein Jahr lang von der Nacht gelebt, als ich Roxanne kennenlernte. Sie hatte eines Nachts versucht, mir eine falsche Münze anzudrehen. Sie war siebzehn, vor zwei Jahren vom Lande gekommen, geflohen, um den Zudringlichkeiten ihres Stiefvaters zu entkommen. Sie verachtete den Kerl ebenso wie den Gedanken an eine Zukunft, die nichts als Babys und Feldarbeit und frühes Alter für sie bereitgehalten hätte. Auf den Straßen von Paris hatte sie nur Armut und Zuhälter gefunden – und die Wahl zwischen einem Leben auf der dunklen Seite der Stadt oder überhaupt keinem Leben.
Ich hätte sie getötet, ohne dem, was ich tat, einen zweiten Gedanken zu
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