Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
deutete auf den Seesack und den Gitarrenkasten.
»Alles, was ich bei mir habe. Die Bandausrüstung ist bei Pete; und ich hab ein paar Klamotten in einem Schließfach im Gold Rush. Man muss lernen, mit leichtem Gepäck zu reisen, Ardy«, sagte Sara und deutete auf die wandhohen Bücherregale, den Fernseher und Videorecorder, die Stereoanlage, die Couch und die Sessel. Dabei handelte es sich um das erste ordentliche Mobiliar, das Ardeth je besessen hatte. Sie hatte es zusammen mit der Eigentumswohnung erworben – von jenem Geld, das ihr nach dem Autounfall ihrer Eltern zugeflossen war. Sie hatte sechs Monate gebraucht, um auch nur daran zu denken, ihre Erbschaft auszugeben, ohne dabei Schuldgefühle zu empfinden. Und selbst dann hatte auch die Tatsache, dass Sara bereits ein Viertel ihres Anteils verbraucht hatte, um ihre Band zu finanzieren, ihre Entscheidung beeinflusst. So, als wäre das Ganze nur ein Wettbewerb – wer kann Mommys und Daddys Geld besser ausgeben?
»Wenn ich mit leichtem Gepäck reisen würde, würdest du in meinem Wohnheimzimmer auf dem Boden schlafen«, meinte Ardeth etwas spitz. Sie konnte sich selbst nicht leiden, wenn sie derart zur typischen älteren Schwester mutierte, die der jüngeren Vorträge hält. Aber fast jedes Gespräch, das sie mit Sara führte, endete so. Sie hatte das Gefühl, immer tiefer in die Rolle der stabilen, verlässlichen und langweiligen Akademikerin gedrängt zu werden – wenn auch nur im Vergleich zu Sara, die ihre Freunde und jeweilige Bleibe ebenso schnell wechselte wie die Frisur. Ardeth stand auf und gähnte. Am besten hörte sie damit auf, solange sie noch konnte. »Ich muss jetzt schlafen. Wir sehen uns dann morgen früh.«
»Um sechs, okay«, stöhnte Sara.
»Na ja, vielleicht um acht. Ist ja Wochenende.« Sie grinste, und ihre Schwester lachte.
»Was soll’s, auf diese Weise kriege ich wenigstens mit, wie die Welt vor Mittag aussieht. Lädst du mich zum Brunch ein?«
»Einladen?«
»Nun, wir werden für die Gigs dieser Woche erst morgen Abend bezahlt, deshalb bin ich etwas knapp bei Kasse.« Sie hatte wenigstens den Anstand oder zumindest die Klugheit, dabei etwas verlegen zu klingen.
»Okay. Brunch geht in Ordnung. Aber dafür musst du bis halb elf auf sein«, warnte Ardeth. Sara öffnete ihren Seesack, und ein Haufen zerdrückter schwarzer Kleidung fiel heraus.
»Für ein Gratisessen? Worauf du dich verlassen kannst.« Sara betrachtete die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke, als wären sie Teeblätter, und das Muster, das sie auf dem grauen Teppich bildeten, enthielte irgendeine Botschaft. Dann blickte sie auf. »Danke, Ardeth. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«
»Jederzeit wieder«, erwiderte Ardeth und stellte erleichtert fest, dass sie das tief im Inneren auch so meinte.
Sara blieb bis Sonntagnachmittag, dann zog sie mit Pete und Steve, den beiden anderen Dauermitgliedern von Black Sun, in dem zerbeulten Wagen der Band weiter. Sie versprach anzurufen, sobald sie eine neue Telefonnummer hatte. Ardeth seufzte und fügte der Reihe durchgestrichener Telefonnummern in ihrem Adressbuch einen weiteren schwarzen Strich hinzu.
2
Ardeth merkte bald, dass es doch hilfreich gewesen war, mit Conrad zu sprechen. Sie machte sich mit neuer Energie an ihre Doktorarbeit, und die Ideen, die ihr noch vor einer Woche so formlos vorgekommen waren, fingen an, Gestalt anzunehmen. Sie hatte nicht länger das Gefühl, von jemandem auf dem Campus verfolgt zu werden. Und Spekulationen über das Geheimnis um Armitage verbannte sie in die Zeit, wenn sie manchmal in der Bibliothek saß und nichts Besseres zu tun hatte, als sich müßigen Gedanken hinzugeben.
Dann wurde Conrad ermordet.
Sie erfuhr davon aus den Nachrichten, am Sonntagnachmittag eine Woche nach der Party bei Peter. Die nächsten zwei Tage kursierten in der Campuskneipe, der Bibliothek und den Hörsälen wilde Gerüchte. Con war erstochen, erschlagen, erschossen worden. Der Täter war ein ehemaliger Liebhaber, ein neuer Liebhaber, ein völlig Fremder. In den Zeitungen stand nicht viel, abgesehen von der Bestätigung des amtlichen Leichenbeschauers, dass der Tod auf einen Schlag mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf zurückzuführen war, und dass die Polizei in der Homosexuellenszene Befragungen durchführte darüber, wo Con an dem Abend gewesen war.
Ardeth stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass sie um Con mehr weinte, als sie damals um Tony geweint hatte. Sie weinte und
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