Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
versuchte, die eiskalte Last in ihrer Magengrube zu ignorieren, den schrecklichen, irrationalen Verdacht, dass sie irgendwie die Verantwortung für seinen Tod trug – dass ihr innerer Friede sich um den Preis von Conrads Leben eingestellt hatte. Hinter diesen unlogischen Schuldgefühlen verbarg sich der beängstigende Zwang, sich wieder um die Zusammenhänge zu kümmern, die Conrad so elegant abgetan hatte. Das Verschwinden von Armitage, das in Brand gesteckte Lagerhaus, Tonys ›Unfall‹, der Mord an Conrad, das Echo von Schritten hinter ihr in der Nacht. Sie fragte sich, was wohl besser war: verrückt zu sein oder wirklich in Gefahr zu schweben.
Ihre alltägliche Routine bot eine gewisse Zuflucht vor Leid und qualvollen Gedanken, und deshalb hielt sie sich, so gut es ging, an den etablierten Tagesrhythmus. Ein Ritual, an das sie sich klammerte, war ihr Spaziergang am frühen Morgen. Um halb sieben war es noch still im Viertel, und die Sonne fing gerade erst an, sich in die leeren Straßen hineinzutasten. Sie ging immer denselben Weg, und deshalb vertraute sie darauf, dass ihre Füße sie von alleine trugen und sie ihren Geist wandern lassen konnte, von einer Passage in ihrer Doktorarbeit, die ihr immer noch Probleme bereitete, zum Begräbnis von Conrad, zu Carlas bevorstehender Abendeinladung und wieder zurück zu ihrer Doktorarbeit.
Am Fuße der kleinen Anhöhe, die zum Casa Loma, Torontos Schloss, hinaufführte, blieb sie kurz stehen. Sie konnte hier nach links abbiegen, der Straße folgen und so die Anhöhe erklimmen oder die steile Treppe nehmen, die in die Hügelflanke gegraben war. Über den Bäumen konnte sie die Türme und Zinnen jenes kunstvollen Prachtbaus aufragen sehen, den ein wohlhabender Kaufmann als Tribut an seine Frau hatte erbauen lassen – sie hatte die Fertigstellung nicht mehr erlebt. Jetzt war es ein Anziehungspunkt für Touristen und ein Ort, an dem extravagante Hochzeiten oder geschmackvolle Weihnachtsfeiern großer Firmen stattfanden.
Etwas Bewegung kann dir nicht schaden, sagte sie sich. Und die Treppe hinaufzuklettern war harte Arbeit, wenigstens hart genug, um ihre Gedanken von Dingen abzuhalten, über die sie an diesem Morgen lieber nicht nachdenken wollte.
Sie hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt und legte gerade an einem Treppenabsatz eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen, als sie hinter sich Schritte hörte. Sie blickte sich um und sah einen blonden Mann, der hinter ihr die Stufen heraufkam. Er bewegte sich schnell, sah sie aber nicht an. Ardeth kletterte weiter, sie kam sich auf der langen Treppe verletzbar und entblößt vor. Sie blieb kein zweites Mal stehen, obwohl ihre Schenkelmuskeln protestierten und sie anfing, Seitenstechen zu bekommen. Aber die Schritte hinter ihr wurden beständig lauter.
Den letzten Treppenabschnitt nahm sie jeweils zwei Stufen auf einmal und hielt sich am Geländer fest, um schneller voranzukommen. Auf halbem Weg nach oben wagte sie einen Blick zurück und sah, dass der Mann schon beinahe den Absatz unter ihr erreicht hatte. Da war wieder dieses eisige Gefühl in ihrem Magen, und sie wandte sich wieder nach vorne, um die letzten Stufen hinaufzurennen.
Oben stand jemand.
Sie erhielt einen flüchtigen Eindruck von dunklem Haar, dunkler Kleidung. Lauf weg, drängte sie die eisige Kälte, die jetzt ihren ganzen Körper erfasst hatte. Sei kein Narr, widersprach ihre Vernunft. Das ist nur ein Jogger oder jemand, der einen Spaziergang macht. Er wartet nicht auf dich. Ardeth sah wieder nach oben und nahm das Lächeln wahr, das er zu verbergen suchte.
Sie wusste, dass ihre sich weitenden Augen sie verrieten. Er bewegte sich bereits auf die obersten Stufen zu, als sie sich unter dem Geländer durchduckte und auf dem fast senkrecht verlaufenden Hügel um ihr Gleichgewicht kämpfen musste. Sie glitt auf dem vom Tau noch feuchten Gras aus und begann, den Hügel diagonal nach links oben hinaufzuklettern, in der Hoffnung, oben zu sein, bevor er sie abfangen konnte. Wenn er die Treppe verließ, würde er genauso schwer vorankommen wie sie, und vielleicht schaffte sie es dann, vor ihm nach oben zu gelangen. Solange er nur nicht wieder die Treppe erklomm …
Ein schneller Blick nach rechts ließ sie erkennen, dass er genau das getan hatte und jetzt auf dem Hügelkamm entlangrannte, um ihr den Weg abzuschneiden. Das passiert nicht wirklich, flüsterte ein Teil ihres Bewusstseins in stumpfer Panik, das kann einfach nicht wirklich passieren. Wieder
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