Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Sitz um und zog sich die nach Rauch riechende Decke über die Schultern. Im Rückspiegel sah sie, wie die Augen des jungen Polizeibeamten sie suchten. »Alles in Ordnung dort hinten, Dr. Takara?«
»Ja. Vielen Dank. Aber ich mach jetzt vielleicht für eine Weile die Augen zu.«
»Nur zu. Ich wecke Sie, wenn wir aufs Revier kommen«, sagte er besorgt. Lisa nickte und schloss die Augen.
Hinter der Sicherheit ihrer Maske formulierte und erprobte ihr Geist mögliche Lügen, während ihre Finger geistesabwesend einen Papierfetzen, den sie in der Tasche hatte, immer wieder auf und zu falteten – es war eine abgegriffene Visitenkarte mit einer Telefonnummer, die sie nie angerufen hatte.
Zweites Buch
Blut und Chrysanthemen
1
You say the word
and lips are chilled
by autumn wind.
Du sagst das Wort,
und der Herbstwind
lässt die Lippen eisig werden.
Matsuo Basho
Ardeth Alexander hing in der Wand, das rechte Knie angewinkelt, um mit der Zehenspitze auf einem schmalen Absatz zu balancieren, die Zehenspitze des anderen Fußes hatte sie gegen den Fels gepresst. Drei Finger ihrer linken Hand klammerten sich angestrengt an einen winzigen Vorsprung, während die rechte sich in die Höhe streckte und vergebens versuchte, den nächsten Griff zu erreichen.
Nicht ganz so wie ihm Kino, was?, spottete etwas in den Tiefen ihres Geistes. Kannst wohl doch nicht so wie Christopher Lee oder Frank Langella mit dem Gesicht nach unten die Burgmauer herunterkrabbeln, wie?
Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig, hob den linken Fuß am Fels entlang und suchte nach irgendeinem winzigen Vorsprung, der ihr für den nächsten Versuch Halt bieten sollte. Sie blickte nach oben, konnte aber nicht über den Punkt hinaussehen, wo die Wand einen deutlichen Überhang bildete.
Von der relativ stabilen Position aus, die sie eingenommen hatte, konnte sie den nächsten Griff nicht erreichen. Um das zu schaffen, musste sie die Füße dorthin bringen, wo jetzt ihre Hände waren und den Abstoß nutzen, um genug Schwung aufzubauen, um den Griff zu fassen zu bekommen. Sie hatte es geschafft – einmal. Die anderen Male hatte es immer damit geendet, dass sie recht würdelos an dem Seil baumelte, das an ihrem Klettergurt befestigt war.
Während Ardeth die Füße in die Felsspalten zwängte, versuchte sie sich daran zu erinnern, wie es damals gewesen war. Das ist leicht, ganz leicht, redete sie sich ein. Du musst dich einfach abstoßen und zupacken. Du schaffst das. Dieser Körper hatte es schon einmal bewerkstelligt. Das wusste sie. Alles, dessen es bedurfte, war, dass ihr Kopf sich dessen bewusstwurde, dass er all das unsichere Herumtasten und all die Fehler vergaß, die ihr alter Körper ihm vererbt hatte.
Sie sog die Luft tief in ihre Lungen und spürte, wie ihre Muskeln sich spannten. Denk jetzt nur an den nächsten Griff, dort oben, hinter der Biegung des Überhangs, denk an das, was du jetzt tun kannst, denk an das Blut und die Kraft und die Nacht, und dann los!
Sie warf sich nach oben und um die Biegung herum, und ihre rechte Hand fand den Griff, während die rechte Fußspitze nach einem Tritt suchte, den sie nicht fand. Ihre linke Hand klatschte dicht unter dem nächsten Griff gegen das Felsgestein und rutschte ab. Sie merkte, wie sie stürzte. Ihre Beine lösten sich vom Fels und strampelten hilflos unter ihr. Die Finger ihrer rechten Hand klammerten sich an den Fels, verkrampften sich mit aller Kraft, die sie in sich konzentrierte, und sie spürte, wie der Griff zersplitterte.
In dem Augenblick fasste ihre herumtastende linke Hand eine kleine Leiste. Sie stöhnte, als das Gewicht ihres stürzenden Körpers durch ihre Schulter und ihr Handgelenk ruckte.
»Keine Panik«, sagte eine Stimme neben ihr, und plötzlich flossen all die Wahrnehmungen, die sie ignoriert hatte, wieder zu ihr zurück: Die Stimmen der anderen Kletterer an der künstlichen Wand, das Ächzen der Schuhe auf dem Turnhallenboden, der verängstigte Ruf ihres Partners am Boden.
Ardeth schlug die Augen auf, merkte erst jetzt, dass sie diese überhaupt geschlossen gehabt hatte, und blickte nach rechts. Ein Mann ruhte sich in seinem Toprope ein Stückchen über ihr aus, die Beine in die Wand gestemmt. »Weiter. Das Seil hält Sie schon. Sie schaffen das«, redete er ihr zu. Sie wusste, dass es stimmte. Das Seil an ihrem Klettergurt war durch das Gewicht der Frau, die sie sicherte, gut am Boden verankert. Aber sie schüttelte den Kopf.
»Wo ist der nächste
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