Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
sich entfernenden Rücken lastete.
Draußen auf der Hauptstraße fühlte sie sich sicherer. Hier waren immer noch Reste einer Menschenmenge, obwohl sie feststellte, dass es wesentlich weniger geworden waren, seit sie vor einem Monat eingetroffen war. Frye hatte Recht: Die Touristensaison war beinahe vorbei. Oder zumindest war eine Flaute eingetreten, die bis zum Beginn der Skisaison im Dezember andauern würde. Ardeth schulterte ihre Tasche und wünschte sich, sie käme sich nicht plötzlich so exponiert vor. Sie hatten nie vorgehabt, hier Station zu machen – sie waren eigentlich nach Vancouver unterwegs gewesen. Aber dann hatte ihr Wagen, billig gekauft und kaum in einem Zustand, den man als fahrtüchtig bezeichnen konnte, unmittelbar vor der Stadt endgültig den Geist aufgegeben. Als sich herausstellte, dass die Reparatur mehr kosten würde, als sie sich leisten konnten, hatten sie sich mit einem längeren Aufenthalt abgefunden. Aber als sie sich dann ein wenig umgesehen hatten, fanden sie, dass Banff das perfekte Versteck sein könnte. Auf den Straßen drängten sich Touristen, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von jungen Reisenden aus der ganzen Welt, die nach Banff kamen und Aushilfsstellen suchten, um sich damit das Geld für den Aufenthalt zu verdienen, der ganz im Zeichen von Klettern, Wandern, Radfahren und Camping stand.
Jetzt, wo sie das alles mit neuen Augen sah, fühlte sie sich nicht länger unsichtbar. In dem sommerlichen Meer aus japanischen Touristen würdigte niemand ihr kurzgeschnittenes, schwarzes Haar eines zweiten Blickes; jetzt sah es im Vergleich zu den überwiegend langenhaarigen Frisuren der Einheimischen und Durchreisenden so krass gefärbt aus, wie es auch war.
Ihre dunklen Kleider, die ihr in den Bars der Queen Street von Toronto perfekte Anonymität gesichert hatten, schienen sich plötzlich zu stark von der bunten Freizeitkleidung abzuheben, die die meisten Touristen ebenso wie die Ortsansässigen trugen.
Du könntest nicht einmal dann auffälliger wirken, wenn du ein Schild tragen würdest, dachte sie, als ihr Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster eines Cafés fiel, während sie an einem Knäuel Touristen vorüberging. Man brauchte bloß die eine herauszupicken, die nicht ins Bild passte.
Und dann war sie dankenswerterweise am hellen Lichtschein der Geschäfte und Restaurants vorbei, welche die Banff Avenue säumten. Jetzt befand sie sich auf der Straße, die zu ihrem Apartment führte. Vor ihr türmte sich der rundliche Rücken des Tunnel Mountains auf und schien in seinem Schatten Schutz zu versprechen.
Die natürliche Pracht des ganzen Ortes hatte sie von Anfang an überwältigt. Sie hatte sich nie besonders zum Leben in der Natur hingezogen gefühlt, konnte aber jetzt zum ersten Mal seinen Reiz verstehen. Nichts, was sie je auf Fotos oder in Filmen gesehen hatte, hatte sie auf die nackte Schönheit der Felsen und Bäume oder auf die Umarmung der Berge vorbereitet. Selbst wenn sie sie nur im Mondlicht zu sehen bekam, oder im sich dehnenden Zwielicht, das hier noch lange andauerte, wenn die Sonne längst hinter den Bergspitzen verschwunden war. Als sie zu ihrer ersten Jagd ausgezogen waren, hatte sie Angst gehabt. Und ihre das Stadtleben gewöhnten Nerven zuckten bei jeder Brise in den hohen Fichten rings um sie herum zusammen. Aber ihr Nachtblick hatte die mondbeschienenen Wälder wie helles Silber aussehen lassen. Wenn es in seinen Tiefen noch andere Räuber gab, so hielten sie sich von ihnen fern.
Sie war beinahe zu Hause, als sie ihn rufen hörte. Nicht mit Worten, da war bloß das plötzliche Wissen in ihrem Herzen, dass er das Observatorium verlassen hatte und jetzt auf der Brücke über den Bow River zu ihr unterwegs war. Für die Jagd war es noch zu früh, aber sie wusste, dass er den Berg hinaufgehen würde, vorbei an den letzten Häusern, die dem Wald ihre Grundstücke abgerungen hatte. Hunger erwachte zuckend zum Leben, und die Erinnerung an Mark Fryes Hand, die auf der ihren brannte, ließ ihre Kehle schmerzen.
Warte auf mich, flüsterte die Stimme in ihrem Geist und sie spürte seine Zustimmung. Ardeth kehrte zur Hauptstraße zurück, überquerte den Fluss und fand den Pfad, der sie zu ihm führen würde.
Er wartete am Rande der kleinen Lichtung, ein kurzes Stück hangaufwärts. Als er aus dem Schatten der Bäume trat, ließ das Mondlicht sein langes graues Haar silbern erscheinen und beleuchtete seine fein geschnittenen Züge. Ardeth spürte,
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