Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
überschritten werden konnte: Die Linie zwischen Tag und Nacht, der Abgrund zwischen dem, was sie war, und was jene anderen waren. Sie konnte nicht aus dem Schatten herausklettern, den die Wahrheit warf.
Ardeth zuckte etwas verärgert die Achseln und versuchte, derartige Gedanken von sich zu schieben. Zum Teil hatte sie deshalb mit dem Klettern begonnen, weil es einfach war, weil es da ausschließlich einen selbst und das Ziel gab und nur einen Weg nach oben. Sie brauchte diese Klarheit, diese Direktheit, weil für sie nichts einfach gewesen war, seit ihre Welt sich vor sechs Monaten für immer verändert hatte. Sie wollte alles auskosten, was sie konnte – die physische Freude an der Kraft ihres neuen Körpers, das Vergnügen an der Illusion des Risikos. Sich mehr zu wünschen, würde die Dinge nur wieder verkomplizieren.
Sie schob die breite Eingangstür auf und sog in tiefen Zügen die kühle Nachtluft ein. Ardeth blinzelte, als sie den sternenbedeckten Himmel sah. Sie brauchte gar nicht erst zu raten, wo er heute Nacht sein würde – klare Nächte schienen so selten zu sein, dass er sie nie vergeudete.
»Nochmals hallo.« Die Stimme aus dem Schatten zu ihrer Rechten ließ sie herumwirbeln. Sie trat einen Schritt zurück und hob gleichzeitig instinktiv beide Hände, wie um sich zu verteidigen. »Habe ich Sie erschreckt? Das tut mir leid.« Der Kletterer, der ihr an der Wand mit Rat zur Seite gestanden hatte, erhob sich aus seiner gebückten Position am Fahrradständer.
»Ist schon gut. Ich war bloß in Gedanken . . . Sie haben mich ein wenig erschreckt.«
Er schob ein ziemlich mitgenommenes Mountainbike ins Licht, während er sich ihr zuwandte. Jetzt, da ihre Gedanken sich nicht mehr darauf konzentrieren mussten, den Überhang zu überwinden, sah sie ihn praktisch zum ersten Mal richtig an. Er war größer, als sie gedacht hatte: über eins achtzig und massiv gebaut. Er besaß eine breite Kinnpartie um ein breites Grinsen herum, eine große Nase, dicke Augenbrauen über blauen Augen. Sein Haar hatte eine schlammig braune Farbe und war mit ein paar hellblonden Strähnchen durchsetzt.
»Ich heiße Mark, Mark Frye.« Er streckte ihr die Hand entgegen, und sie starrte sie einen Augenblick lang an, ehe sie sie dann zögerlich schüttelte. Seine Finger waren schwielig und mit Talkumpuder bedeckt, aber seine Haut fühlte sich so heiß an, dass sie dachte, sie müsse verbrennen.
»Ardeth Alexander.«
»Sind Sie neu hier?«
»Seit ein paar Wochen.«
»Ich dachte schon, dass ich Sie hier noch nie gesehen habe.«
»Klettern Sie oft an der Wand?«
»Nein, eigentlich nicht … aber Banff ist eine Kleinstadt. Über kurz oder lang sieht man hier die meisten Leute wenigstens einmal auf der Straße. Besonders jetzt, wo die Touristensaison beinahe vorbei ist.«
Ardeth runzelte die Stirn und erkannte, dass er Recht hatte. Ihre in Toronto entstandenen Instinkte konnten sich einfach nicht vorstellen, dass man jeden Mitbewohner in seinem Wohnblock kannte, geschweige denn jedermann in einer ganzen Stadt. Das stellte eine Komplikation dar, mit der sie nicht gerechnet hatte – und war ein zusätzlicher Grund, um weiterzuziehen. »Außerdem«, fuhr Mark fort, »arbeite ich drüben bei Domano Sports, und da sehe ich eine Menge Leute, die Skier und alles Mögliche kaufen. Klettern Sie schon lange?«
»Erst seit ich hierhergekommen bin.«
»Sie sind recht gut. Waren Sie schon mal richtig klettern?« Sie schüttelte den Kopf. »Außerhalb der Stadt gibt es ein paar schöne Stellen. Wenn Sie interessiert sind, könnte ich Sie mal hinbringen.«
Ardeth sah ihn einen Augenblick lang an und wusste, dass das Angebot mehr beinhalten mochte als nur klettern. Wieder fühlte sie seine heiße Haut an ihrer Hand. Sie konnte sein Blut unter dem Schweiß und dem Kreidepulver wittern. Einen verwegenen Augenblick lang malte sie sich aus, wie es wäre, Ja zu sagen. Zu dem irrwitzigen Risiko des Kletterns das noch irrwitzigere Risiko von Sex hinzuzufügen. Und dann das irrwitzigste Risiko von allen.
»Ich kann nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe eine Sonnenallergie. Ich könnte bei Tageslicht nicht klettern. Trotzdem vielen Dank . . . War nett, Sie kennenzulernen. Gute Nacht.« Die Worte purzelten förmlich aus ihr heraus, wie um seine Einwände im Keim zu ersticken. Sie wandte sich schnell ab und ging zur Straße. Er sagte nichts, aber sie spürte – oder glaubte wenigstens zu spüren –, wie das Gewicht seiner Augen auf ihrem
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