Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
seinem Handgelenk, aber sie hatte ihm mehr gegeben: Ihren Kuss, ihre Berührung und zuletzt, trotz der Gitterstäbe dazwischen, ihre Kehle.
In der darauffolgenden Nacht war sie aus ihrem Grab im Wald zurückgekehrt. Beide hatten sich anschließend dem Wahnsinn hingegeben, das räumte er insgeheim ein. Es war notwendig gewesen, diejenigen dahinzumetzeln, die sie gefangen gehalten hatten, aber weder er noch sie hatten daran gedacht, zu überleben, als sie das getan hatten, was sie tun mussten. Nur die Rache hatte ihr Denken beherrscht.
Und so war es wieder zu einer Flucht gekommen. Wenigstens hatte er ein gewisses Maß an Rechtschaffenheit zurückgewonnen: Er hatte Ardeth weggeschickt, weil er wusste, dass der Drahtzieher hinter jenen Männern, die sie gefangen gehalten hatten, ausschließlich ihn suchte. Jeder gefangen in seiner eigenen Einsamkeit, waren sie manchmal durch dieselben Straßen geschlendert. Er hatte sich hinter der Maske eines Stadtstreichers verborgen und so Kenntnisse über die neue Welt gesammelt, in der er erwacht war. Ardeth hatte aus sich, aus ihrer eigenen perversen Logik heraus, die schöne gefährliche Vampirverführerin der finsteren Träume der Welt gemacht.
Am Ende hatten die Mächte von Ambrose Dales Wirtschaftsimperium Havendale, an dessen Spitze jetzt seine dem Wahnsinn verfallene Enkelin Althea stand, sie erneut in ihre Gewalt bekommen und dabei Ardeths Schwester Sara und deren Freund Mickey ebenso in den Mahlstrom mit hineingezogen. Dale hatte beabsichtigt, sie zu Versuchskaninchen zu machen, wollte, dass die von ihr gefangen gehaltenen Wissenschaftler ihren untoten Körpern das Geheimnis der Unsterblichkeit abrangen. Auch dem konnten wir entkommen, erinnerte er sich, und zwang sich dazu, noch einmal die Szenen an sich vorüberziehen zu lassen. Er lauschte erneut der sterbenden Althea, als diese versucht hatte, sich die Ewigkeit und zugleich unermessliche Macht zu erkaufen. Er zwang sich abermals, die Hitze ihrer Haut und die Rauheit ihres Haares zu spüren, als er die Hände an ihren Kopf gelegt und ihr das Genick gebrochen hatte.
Er war mehr als fünfhundert Jahre alt. Tausend Gefahren hatte er zu Lebzeiten ins Auge gesehen: Folter, Hunger, Flut, Pestilenz und Feuer. Und er hatte sie alle überlebt. Ganz sicherlich gab es hier, an diesem ruhigen Ort, unter diesem Himmel der Wunder, nichts, vor dem er zu fliehen brauchte.
Nichts im Außen Befindliches, räumte er ein. Jenen anderen Fragen – die, die man in sich trägt, und von denen man sich mit der Wissenschaft ablenkt, oder sie mit körperlicher Herausforderung verdrängt, so wie Ardeth es derzeit tut – kann man sich nicht ewig entziehen.
Er schlug die Augen auf. Die Wolken waren weitergezogen, wenigstens für den Augenblick. Er beugte sich vor und fand den Nebel wieder. In dieser Nacht waren die Geheimnisse, die er barg, die einzigen, die er betrachten wollte.
3
Es war kurz nach sieben – Zeit für die Dosis Koffein, die er brauchte, um durchzuhalten, bis geschlossen wurde. Mark Frye blieb an der Kasse stehen, um Kellie zu fragen, ob sie auch etwas haben wolle, und verließ dann Domano Sports. Er ging zu einem der fünf Cafés, die im Verlauf des letzten Jahres im Umfeld eröffnet hatten. Sie waren auch ein Teil der zunehmenden Verstädterung der Ortschaft, die ihn heute die Hauptstraße kaum mehr als jene erkennen ließ, über die er vor zehn Jahren zum ersten Mal mit seinem zerbeulten alten Ford gefahren war. Er wäre glücklich gewesen, wenn all die Ralph Laurens und Monaco Clubs wieder dorthin zurückgekehrt wären, woher sie gekommen waren … aber die Cafés konnten ruhig bleiben. Cappuccino war zu einer Art Lebensnotwendigkeit geworden, nicht länger nur Luxus.
Das gehörte mit zum ewigen Widerspruch des Lebens in einer Touristenortschaft: Die Touristen zahlten die Rechnungen und verdarben die Umgebung. Die Lebensgewohnheiten wurden vom Profit genährt und führten zu zunehmender Kommerzialisierung und manchmal zu hässlichen städtebaulichen Entwicklungen. Weil die Ortschaft sich in einem Nationalpark befand, unterlag das Wachstum gewissen bürokratischen Regeln … Aber, wo Geld war oder allein schon der Geruch von Geld, gab es auch Mittel und Wege. Man konnte sich immer Gründe ausdenken, weshalb die Ortschaft mehr Hotelzimmer, mehr Golfplätze und mehr Shopping-Center brauchte. Der Lebensunterhalt des einen zerstörte die Idealvorstellung des anderen von der Stadt, und auf wessen Seite man stand, hing
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