Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
das im Sinn haben. Herrgott, Mark, was hast du getan? Wenn diese Frau mit gebrochenem Rückgrat am Boden liegt, wird es deine Schuld sein. Kalte Sorge prallte plötzlich auf heiße Scham. Er hatte nicht überlegt, was sie vielleicht mit dem anfangen würde, was er ihr sagte. Herrgott, er hatte überhaupt nicht nachgedacht . . . hatte bloß ihre Augen und diese volle Unterlippe im Sinn gehabt, und wie lange es doch schon her war, dass ihm so etwas an einer Frau aufgefallen war. War er so ausgehungert nach Sex, dass er bereit war, dafür ihr Leben zu riskieren?
Ehe er die Konsequenzen seines impulsiven Vorschlags ganz verarbeiten konnte, hatte sie seine Skizze zusammengefaltet und in ihrer Handtasche verstaut. Sie sah auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank für den Tipp.«
»Ardeth … tun Sie es nicht alleine. Wirklich nicht. Wenn Sie die Tour gehen wollen, rufen Sie mich an. Mir ist es egal, ob es Mittag ist oder nachmittags oder zwei Uhr morgens. Gehen Sie nicht alleine. Das müssen Sie mir versprechen.«
Ihre Augen lösten sich von den seinen, und er sah, dass sie sich anschickte, aufzustehen. Er streckte die Hand aus, griff nach der ihren und hielt sie fest.
»Versprechen Sie es mir.«
Er spürte, wie ihre Finger sich den seinen entwanden, dann war seine Hand leer. Er erhaschte einen Blick auf etwas in ihren Augen, das wie Bedauern aussah, und dann war sie verschwunden.
Mark saß reglos da, starrte ihr nach und hatte den kalt werdenden Kaffee auf dem Tisch völlig vergessen.
Du Idiot, sagte er sich, musstest ja dein Maul aufreißen. Musstest unbedingt Eindruck auf sie machen. Musstest scharf auf sie sein.
Das ist nicht deine Schuld, redete ihm eine andere Stimme gut zu, sie ist schließlich erwachsen und kann ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und diese Routen hätte sie in jedem Kletterführer finden können, und jeder andere hätte sie ihr auch empfehlen können. Aber er hatte es ihr gesagt. Er war von ihrem Interesse zu gebannt gewesen, zu begierig, einen Anlass zu finden, um mit ihr zu reden.
Sie hatte keine Ahnung von den Risiken. Sie dachte, es würde so wie die Wand sein, wo man sich wirklich Mühe geben musste, um zu Schaden zu kommen. Im echten Fels konnte alles Mögliche passieren. Echter Fels konnte Knochen brechen, Wirbelsäulen zerschmettern. Echter Fels konnte einen umbringen.
Vielleicht würde sie am Ende doch nicht gehen. Aber das glaubte er nicht. An ihrem Interesse und der Aufmerksamkeit, mit der sie ihm zugehört hatte, war etwas gewesen, das in ihm die Gewissheit erzeugte, dass sie es probieren würde, über kurz oder lang.
Es ist also deine Schuld. Und was wirst du tun?, forderte er sich selbst heraus. Was konnte er tun? Er wusste nicht, wo sie wohnte, oder wie er mit ihr in Verbindung treten konnte. Aber vielleicht würde Sally, die in der Gemeindeverwaltung arbeitete, ein paar Vorschriften etwas verbiegen und ihm einen Hinweis geben können. Banff war ja schließlich keine Großstadt. Irgendwann würde er ihr auf der Straße begegnen.
Und wenn nicht …
Er konnte immer noch zum Berg gehen und nach ihr Ausschau halten. Bloß ein kurzer Abstecher, um zu sehen, ob sie dort war. Hm, dachte er, bloß ein kurzer Abstecher von ein oder zwei Stunden mitten in der Nacht. Aber der Gedanke übte eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Wenn er das machte, würde das möglicherweise sein Schuldgefühl dämpfen. Und wenn er sie fand … nun ja, sie konnte ihn ja schlecht wegschicken, wenn er all das aus Sorge um sie getan hatte.
Aber selbst wenn er das tat – aus welchen Motiven auch immer, selbstlos oder nicht –, dann würde das wahrscheinlich nicht die Nacht sein, die sie ausgewählt hatte, und am Ende würde sie doch verletzt, gelähmt oder noch Schlimmeres sein.
Mark seufzte, trank einen Schluck Kaffee und merkte kaum, dass dieser kalt geworden war. Er sah zum Fenster hinaus und betete zum ersten Mal seit Jahren um Regen.
4
Auf dem Foto war ein Autofriedhof abgebildet, endlose Reihen verrostender Autos in der grellen Mittagssonne. Nirgends milderte ein Schatten die harten Kontraste, und kein einziger Grashalm wuchs zwischen den Leichen aus Blech.
Rossokow sah Ardeth an, die die Fotografie studierte, als enthielte sie ein verzweifelt gesuchtes Geheimnis. Nach einer Weile verzog ihr Mund sich ein wenig, und sie sah ihn an. »Was meinst du?«, fragte sie.
»Interessant«, sagte er und musste dann lächeln, als er sich daran erinnerte, wie oft er sich in den
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