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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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gewöhnt zu haben, und es flammten nie Lichter auf. Es kam auch nie jemand heraus, um ihm bei seiner einsamen Betrachtung des Nachthimmels Gesellschaft zu leisten. Ein- oder zweimal war Ardeth mitgekommen, aber sie war das Kind einer anderen wissenschaftlichen Fakultät und zudem mit Dokumentarfilmen über den Big Bang aufgewachsen. Deshalb konnte der Anblick der Sterne sie nicht lange fesseln.
    Bei dem Gedanken an Ardeth legte sich seine Stirn in Falten. Er hatte durchaus Verständnis für ihre neu entdeckte Leidenschaft für das Klettern; er selbst hatte nach seiner Wiedergeburt auch die eine oder andere Art des Nervenkitzels ausprobiert. Über kurz oder lang würde sie ohne Zweifel ihren Gefallen daran verlieren, aber er hatte kein Recht, ihr die Freude und die Begeisterung, die sie jetzt dafür empfand, zu neiden.
    Schließlich stand ihr eine Ewigkeit zur Verfügung, in der sie mit allem experimentieren konnte, was sie wollte. Erst wenn sie aufhörte, am Wandel Freude zu haben, war es für ihn an der Zeit, unruhig zu werden.
    Und auf diese Weise war sie beschäftigt, ebenso wie ihm dieser Schuppen hier eine Möglichkeit verschaffte, sich die Zeit zu vertreiben. Es gab auch noch andere Gründe, weshalb sie kletterte, das wusste er. So wie es auch für ihn weitere Gründe gab, hierherzukommen. Er schloss die Augen und sperrte damit das Mondlicht aus. Sie flüchtet in diesen neuen Zeitvertreib, sagte er sich, so wie du dich in das strahlende Geheimnis der Sterne flüchtest.
    Vor einem Monat noch hatte er geglaubt, dass er oft genug geflüchtet war, wenigstens für eine Weile. Vor eineinhalb Jahrhunderten war er aus Paris und dem Feuer geflüchtet, das seinen tollkühnen Vampirkumpan Jean-Pierre und Roxanne, ihre sterbliche Dienerin und gelegentliche Geliebte, vernichtet hatte. Das viktorianische Toronto war für ihn beinahe dreißig Jahre lang ein sicherer Zufluchtsort gewesen, bis der exzentrische Millionär Ambrose Dale seine Existenz entdeckt hatte. Auch jener Bedrohung war er entkommen und hatte sich in einem speziell dafür erbauten Versteck in einem alten Lagerhaus verborgen. Dort hatte er sich in jenen tiefen Schlaf versetzt, der für ihn dem Tode am nächsten kam. Er hatte geplant, zwanzig Jahre zu ruhen – lang genug, damit der alternde Ambrose verstorben war. Doch als er erwachte, waren beinahe hundert Jahre verstrichen, und ein Nachkomme von Ambrose Dale hatte ihn gefangen genommen.
    Einen Augenblick lang verkrampften sich die Hände in seinem Schoß, und seine Finger krümmten sich wie Klauen. Bilder aus seiner Gefangenschaft zogen an seinem inneren Auge vorbei: das langsame Pendeln der nackten Glühbirne vor seiner Zelle in der verlassenen Irrenanstalt, das Scheuern der eisernen Kette an seinen Gelenken, der allumfassende Schmerz, den seine Peiniger mit ihrem fremdartigen Gerät, dem Ultraschall, heraufbeschwören konnten. Und die Dinge, zu denen sie ihn zwangen – unbekannte Rituale, die in einer Schattenwelt abliefen, jenseits der Welt, die er bewohnte. Für ihn war es genug, dass ihre obskuren Rituale alle auf dieselbe Weise endeten – mit dem Blut, das seine einzige Realität zu sein schien. Auch ihnen war er entkommen, war in den Wahnsinn und den Hunger geflüchtet, die im engen Kreis seines Schädels herrschten.
    Dann war Ardeth gekommen. Vom Schicksal in dasselbe Netz gelockt, in dem er sich verstrickt hatte, war sie nicht die erste warmblütige Nahrungsquelle gewesen, die die Zelle neben ihm bewohnt hatte. Aber sie war die Einzige, die mit ihm gesprochen hatte, die ihm in den langen Nächten Geschichten erzählt hatte, um ihre eigene Furcht in Schach zu halten. Sie war die Einzige, die seinen Namen ausgesprochen hatte. Und wenn er aus ihrem Handgelenk oder ihrer Armbeuge getrunken hatte, dann war ihm, als würde er damit nicht nur Lebenskraft, sondern auch ihren gesunden Verstand in sich aufsaugen.
    Er erkannte die Obszönitäten, an denen sie ihn teilzunehmen gezwungen hatten, wobei seine Mitwirkung, wenn er die Opfer ihres Blutes beraubte, der Höhepunkt der pornographischen Filme war, mit denen sie ein Vermögen verdient hatten. Er hatte erkannte, dass es für ihn nur eine einzige Chance gab, aus dieser Hölle zu entkommen, und dass Ardeth der Schlüssel dazu war. Irgendwie hatte er es geschafft, ihr diese Erkenntnis vorzuenthalten, bis sie selbst zugegeben hatte, dass ihr Tod unvermeidbar war. Bis sie selbst in ihm die einzige Chance für die Befreiung erkannt hatte. Er gab ihr Blut aus

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